Legendäres Selfie mit einem Flüchtling: Angela Merkel im Jahr 2015. Für sie waren alle Flüchtlinge willkommen.
Theologie konkret

Annette Schavan: Merkels Flüchtlingspolitik war moralisch richtig und politisch klug

Angela Merkel dürfte mit ihrer Haltung in der Flüchtlingskrise in die Geschichtsbücher eingehen. Am Montag ehrt sie der UN-Flüchtlingskommissar in Genf. Merkels Vertraute Annette Schavan erklärt, was die Altkanzlerin mit «humanitärem Imperativ» meint. Und warum sie von «Sant’Egidio» fasziniert ist.

Raphael Rauch

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zeichnet Angela Merkel für ihr Engagement in der Flüchtlingskrise aus. Zurecht?

Annette Schavan*: Ja, zurecht, denn ihre Flüchtlingspolitik war ein wichtiges Signal an Deutschland und Europa.

Annette Schavan
Annette Schavan

Angela Merkel hat damals von einem «humanitären Imperativ» gesprochen. Was ist das?

Schavan: Damit ist gemeint: Es ist geboten, die Würde des Menschen und seine Not in das Zentrum des Handelns zu setzen. Das war moralisch richtig und politisch klug.

«Merkel hat als Europäerin, als deutsche Regierungschefin und als Vorsitzende einer C-Partei gehandelt.»

Warum politisch klug?

Schavan: Angela Merkel hat im Sommer als Europäerin gehandelt, die damit an die Werte erinnerte, die der EU zugrunde liegen. Sie hat als deutsche Regierungschefin entschieden, dass die grösste Volkswirtschaft in Europa die Kraft zur Solidarität mit Menschen zeigen muss, die aus ihrer Heimat flüchten müssen. Schliesslich war sie die Vorsitzende einer C-Partei, die gleichsam eine Stunde der Wahrheit erlebte: Reden wir nur vom christlichen Menschenbild – oder handeln wir danach? Deshalb sage ich, es war nicht nur moralisch richtig, sondern auch politisch klug. Moralisches Handeln und politische Klugheit widersprechen sich nicht.

Eine Wandmalerei in Frankfurt erinnert an den syrischen Jungen Alan Kurdi. Er kam im Mittelmeer ums Leben.
Eine Wandmalerei in Frankfurt erinnert an den syrischen Jungen Alan Kurdi. Er kam im Mittelmeer ums Leben.

Ihre grössten Fans hatte Angela Merkel während der Flüchtlingskrise nicht in der Union, sondern bei den Grünen.

Schavan: Vor allem der CSU hat der Dissens in der Flüchtlingsfrage massiv geschadet. Das C ist und bleibt ein Stachel im Fleisch von CDU und CSU. Viele in der Union haben den Kurs der Kanzlerin aus Überzeugung mitgetragen. Gerade in der Union engagieren sich viele in der kirchlichen Flüchtlingsarbeit und haben gemerkt, als sie die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof sahen: Wir müssen jetzt als Gesellschaft zusammenrücken und uns um die Flüchtlinge kümmern.

Papst Franziskus im Gespräch mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel am 7. Oktober 2021 im Vatikan.
Papst Franziskus im Gespräch mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel am 7. Oktober 2021 im Vatikan.

Merkels humanitärer Imperativ in der Flüchtlingskrise hat Deutschlands Image verbessert. Sie waren damals deutsche Botschafterin am Heiligen Stuhl. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Schavan: Papst Franziskus spricht vom Wert der Peripherie für die Glaubwürdigkeit der Christen. Das erkannte er in Merkels Entscheidung und hat das in seinen Neujahrsansprachen als positive Botschaft erwähnt. Der Beziehung zwischen ihm und Deutschland hat das gut getan.

«Angela Merkel hat keine Angst vor Fremdem. Sie ist weltoffen, neugierig und zugewandt.»

Angela Merkel hat 2015 die Schweiz besucht. In Bern fragte eine Frau die Kanzlerin, ob so viele Flüchtlinge aus islamisch geprägten Ländern nicht eine Gefahr seien. Die Kanzlerin hat sehr deutlich geantwortet: «Wenn Sie mal Aufsätze in Deutschland schreiben lassen, was Pfingsten bedeutet, dann würde ich sagen ist es um die Erkenntnis um das christliche Abendland nicht so weit her.»

Schavan: Angela Merkel hat keine Angst vor Fremdem. Sie ist weltoffen, neugierig und zugewandt. An anderer Stelle hat sie einmal gesagt: «Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.» Auch hier zeigt sich ihr humanitärer Imperativ. Es geht darum, allen Menschen zu helfen und alle Menschen freundlich willkommen zu heissen – und nicht nur Christinnen und Christen.

Annette Schavan (rechts) im November 2020 im Gespräch mit kath.ch-Redaktionsleiter Raphael Rauch.
Annette Schavan (rechts) im November 2020 im Gespräch mit kath.ch-Redaktionsleiter Raphael Rauch.

Sie sind seit Jahren mit Angela Merkel befreundet. Wie nah ging ihr die Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik?

Schavan: Angela Merkel war und ist bis heute sicher, dass ihre Entscheidung, die Grenze nicht zu schliessen, richtig war. Sie war fest davon überzeugt: «Wir schaffen das.» Wie dieser Satz auf Protest stiess, war beunruhigend.

«Der Satz ‘Wir schaffen das’ wurde instrumentalisiert für Ängste vor Überforderung.»

Warum war der Satz «Wir schaffen das» so umstritten?

Schavan: Es waren Jahre, in denen die Not von Flüchtlingen instrumentalisiert wurde für Kampagnen, die an Vorurteile und Ängste anknüpfen. So war das auch mit diesem Satz, der instrumentalisiert wurde für Ängste vor Überforderung.

Papst Franziskus und Angela Merkel 2021 beim interreligiösen Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant'Egidio in Rom.
Papst Franziskus und Angela Merkel 2021 beim interreligiösen Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant'Egidio in Rom.

Der Kanzlerin werden Sympathien für «Sant’Egidio» nachgesagt. Stimmt das?

Schavan: Ja, Angela Merkel hat bei ihren Rom-Besuchen eigentlich immer auch «Sant’Egidio» besucht. Sie ist von der Idee fasziniert, dass auch eine kleine Gemeinschaft die Welt verändern kann. «Sant’Egidio» hilft, Elend und Not auf der Welt zu lindern und konnte in vielen Krisensituation diskret und erfolgreich vermitteln. Sant’Egidio geht seit 50 Jahren an die Peripherie.

Papst Benedikt XVI. und Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2006.
Papst Benedikt XVI. und Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2006.

Angela Merkel hat als Bundeskanzlerin zwei Päpste erlebt. Auf der einen Seite stand ihr Benedikt XVI. als Deutscher und Intellektueller nahe. Auf der anderen Seite hat Benedikt XVI. mit seiner Regensburger Rede, mit der antijudaistischen Karfreitagsfürbitte und dem Versuch, den Holocaust-Leugner Williamson wieder zu rehabilitieren, für Empörung gesorgt. Ist Angela Merkel im «Team Benedikt» oder im «Team Franziskus»?

Schavan: Eine Bundeskanzlerin mischt sich nicht in innerkirchliche oder theologische Fragen ein. Offenkundig ist: Die Chemie zwischen Papst Franziskus und ihr stimmt. Und, wie andere Menschen in Deutschland, war sie beeindruckt von einem Landsmann auf dem Stuhl Petri. Sie scheut kein klares Wort, auch nicht vor einem Papst – deshalb die Intervention zu dem Holocaust-Leugner Williamson.

Ursula von der Leyen mit dem Prior von Taizé, Frère Alois.
Ursula von der Leyen mit dem Prior von Taizé, Frère Alois.

Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, hat kürzlich in Taizé gesagt, der Glaube präge ihre Art, Entscheidungen zu fällen. Und sie sei überzeugt, dass sie einmal vor dem höchsten Richter für ihre Taten geradestehen müsse. Überrascht Sie dieses Bekenntnis?

Schavan: Nein, das überrascht mich nicht. Ich sehe das ebenso. Christinnen und Christen tragen Verantwortung vor Gott und dem Menschen. Ihr Glaube kann Kraftquelle sein und ist nach unserem Verständnis mit einer besonderen Form der Verantwortung verbunden.

* Die CDU-Politikerin Annette Schavan (67) gilt als Vertraute der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (68). 

Schavan engagierte sich lange Zeit im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, war Bundesbildungsministerin und von 2014–2018 deutsche Botschafterin am Heiligen Stuhl.

Angela Merkel wird am Montag mit dem Nansen-Flüchtlingspreis des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) ausgezeichnet. 


Legendäres Selfie mit einem Flüchtling: Angela Merkel im Jahr 2015. Für sie waren alle Flüchtlinge willkommen. | © Keystone
9. Oktober 2022 | 05:00
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