Anita Winter präsidiert eine Stiftung für Holocaust-Überlebende
Schweiz

Anita Winter zum Hamas-Angriff: «Holocaust-Überlebende hätten nie gedacht, dass sie so etwas erleben müssen»

Ihre Eltern haben die Reichspogromnacht 1938 überlebt. Heute engagiert sich Anita Winter für Holocaust-Überlebende in der Schweiz und anderswo – und gegen das Vergessen des NS-Terrors. Ein Gespräch in Erinnerung an den 9. November 1938 in Deutschland.

Regula Pfeifer

Am 9. November vor 85 Jahren überfielen NS-Schergen massenhaft jüdische Menschen und zerstörten ihre Häuser, jüdische Geschäfte und Synagogen in Deutschland. Was wissen Sie darüber, als Tochter von Holocaust-Flüchtlingen?

Anita Winter: Meine Eltern haben beide die Pogromnacht erlebt, mein Vater in Berlin, meine Mutter in Nürnberg. Darf ich erzählen, wie sie es erlebt haben?

«In der Reichskristallnacht stürmten SS-Truppen die Wohnung meiner Grossmutter und ihrer Kinder.»

Bitte, erzählen Sie…

Winter: Zuerst die Erzählung meiner Mutter: Am Abend der sogenannten Reichskristallnacht stürmten SS-Truppen die Wohnung meiner Grossmutter Rosa und ihrer Kinder, der vierjährigen Margit und des Babys Arno. Die Familie lebte im eigenen, wunderschönen herrschaftlichen Haus an der Frauenmauertorstrasse 2 in Nürnberg. Die Wohnung wurde an jenem Abend total verwüstet und ausgeraubt. Die SS-Männer nahmen Rosa gefangen. Nur weil sie jüdisch war. – Das ist unermesslich, wenn man sich das vorstellt…

Reichspogrome in Hamburg: SS- und SA-Männer stellen eine Jüdin und einen Juden bloss.
Reichspogrome in Hamburg: SS- und SA-Männer stellen eine Jüdin und einen Juden bloss.

«Meine Mutter überlebte dank vieler Wunder im Versteckten.»

Und was geschah weiter mit Ihren Verwandten?

Winter: In jener Nacht wurde meine Grossmutter Rosa in den Keller der deutschen Arbeitsfront gebracht. Dort wurde sie zutiefst gedemütigt. Wie, kann ich nicht erzählen, es ist zu schlimm. Sie wurde schliesslich gezwungen, ihr Haus zu überschreiben, um ihr Leben zu retten. Zum Glück gelang ihr danach – mit den Kindern – die Flucht nach Frankreich. Das kleine Mädchen Margit überlebte dank vieler Wunder in Verstecken, zeitweise auch in einem Kloster und unter einer falschen Identität. Marguerite Fontaine war ihre falsche Identität, Margit Fern ihr richtiger Name. Margit war meine Mama.

Und wie erlebte Ihr Vater jene Schreckensnacht?

Winter: Mein Vater überlebte die Pogromnacht als 16-Jähriger allein und voller Angst, versteckt in einer Wohnung am Kurfürstendamm in Berlin. Am nächsten Tag ging er allein zu Fuss durch Berlins Strassen und sah die zerstörten jüdischen Kaufhäuser und Synagogen. Als er das volle Ausmass der Zerstörung sah, beschloss er, Deutschland so schnell als möglich zu verlassen. Er ging in die Schweizer Botschaft.

«In der Schweizer Botschaft sagten sie meinem Vater: Juden wollen wir nicht.»

Da seine Mutter vor ihrer Heirat mit einem deutschen Arzt Schweizerin gewesen war, hoffte er in die Schweiz flüchten zu können. In der Botschaft sprach er in perfektem Schweizerdeutsch vor. Doch dort sagten sie bloss: Juden wollen wir nicht. Dennoch gelang meinem Vater schliesslich die Flucht in die Schweiz. So entkamen er und meine Mutter dem tödlichen Schicksal von sechs Millionen europäischen Juden. Nach der Heirat 1961 lebte auch meine Mutter in der Schweiz.

Judenstern
Judenstern

War Ihr Vater in der Schweiz sofort in Sicherheit?

Winter: Nein, seine Situation als Staatenloser war schwierig. Zweimal wurde er von den Schweizer Behörden aufgefordert, das Land zu verlassen, was den sicheren Tod bedeutet hätte. Er lebte in ständiger Angst. Sein Pass hatte den J-Stempel. Nur dank Beziehungen seines Onkels in Baden gelang es ihm zu bleiben.

Die offizielle Schweiz blieb hart…

Winter: Ja, aber ich bin der Schweiz unendlich dankbar, dass mein Vater und andere Überlebende hier eine neue Heimat gefunden haben und eine Existenz aufbauen konnten.

Was macht all diese familiäre Vergangenheit emotional mit Ihnen. Empfinden Sie Angst?

Winter: Es ist nicht Angst, was ich empfinde. Aber ich weiss als indirekt Betroffene: Wir müssen aus der Geschichte lernen und Verantwortung tragen. Wir dürfen nicht gleichgültig sein.

«Mein Vater hat uns immer wieder von der Reichskristallnacht erzählt.»

Woher wissen Sie von den Reichskristallnacht-Erfahrungen Ihrer Eltern?

Winter: Mein Vater hat uns immer wieder davon erzählt, meinen Geschwistern, mir und auch seinen Enkeln. Denn er fand: Was er in Berlin mit eigenen Augen gesehen hatte, war unglaublich. In einem Interview mit der NZZ vom 9.11.2018 sagte er: «Der Weg von der Zivilisation zur Barbarei ist kurz.» Über diese Worte und seine Erfahrungen reden wir in unserer Familie im Moment oft.

Der Holocaust-Überlebende Gabor Hirsch zeigt sein KZ-Zeichen, Zürich, Januar 2020.
Der Holocaust-Überlebende Gabor Hirsch zeigt sein KZ-Zeichen, Zürich, Januar 2020.

Und wie ist es bei Ihrer Mutter?

Winter: Auch meine Mutter erzählte von der Reichskristallnacht und dem, was ihr auf der Flucht widerfuhr, aber selten. Da sie damals noch sehr klein war, hat sie wohl einiges davon von ihrer Mutter Rosa erfahren. Aber weshalb Rosa damals im Visier der Nazis war, habe ich erst vor kurzem erfahren – durch einen Journalisten, der ein Buch plant. Sie war die Sekretärin der jüdischen Gemeinschaft und hatte den Schlüssel zur Synagoge und den Büros. Die Nazis wollten wohl Zugang zu Informationen im Hinblick auf die geplanten Deportationen. Sie setzten die Synagoge in der Pogromnacht in Brand.

«Für den barbarischen Angriff von Hamas-Terroristen finde ich keine Worte.»

Was löst der Angriff von Hamas-Terroristen am 7. Oktober auf Juden in Israel bei Ihnen aus?

Winter: Dafür finde ich keine Worte. Der barbarische Angriff von Hamas-Terroristen hatte enorme Auswirkungen auf jüdische Gemeinden weltweit.  Politik und internationale Organisationen verurteilten die Taten aufs Schärfste. Dennoch gab es in vielen Ländern Demonstrationen, bei denen einzelne Personen den Angriff der Hamas feierten und zu antisemitischen Übergriffen aufriefen.

Menschen solidarisieren sich mit Israel:  Kundgebung vom 10. Oktober in Zürich.
Menschen solidarisieren sich mit Israel: Kundgebung vom 10. Oktober in Zürich.

Was sagen Sie dazu?

Winter: Ich bin erschüttert. Es ist für mich unfassbar. Die Politik, aber auch die Zivilgesellschaft sind aufgerufen, dem entgegenzuwirken.  

«Seit dem Holocaust sind noch nie so viele jüdische Menschen an einem einzigen Tag getötet worden.»

Was sagen die Holocaust-Überlebenden in der Schweiz zum Hamas-Angriff?

Winter: Sie sagen, sie hätten nie gedacht, dass sie so etwas erleben müssten. Seit dem Holocaust sind noch nie so viele jüdische Menschen an einem einzigen Tag getötet worden wie am 7. Oktober. Die Holocaust-Überlebenden haben am Anfang ihres Lebens mit eigenen Augen gesehen, wozu Menschen fähig sind – und nun am Ende wieder. Sie sagen: Die Geschichte lehrt uns, dass wir nicht schweigen dürfen. Wir müssen jetzt erst recht Aufklärungsarbeit machen und aufzeigen, wohin Antisemitismus und Rassismus führen können. Welche Gefahren drohen, auch für die Demokratie selbst. Sie merken, ihr Einsatz im Kampf gegen den Antisemitismus, für Toleranz und Sensibilisierung ist sehr wichtig.

Unermüdliche Zeugin gegen das Vergessen: Charlotte Knobloch in der Ringvorlesung «Die letzten Überlebenden der Shoah», November 2023
Unermüdliche Zeugin gegen das Vergessen: Charlotte Knobloch in der Ringvorlesung «Die letzten Überlebenden der Shoah», November 2023

Kann es sein, dass der Angriff Erinnerungen an den NS-Terror triggert?

Winter: Für die jüdischen Menschen in Israel und weltweit ist seit dem 7. Oktober nichts mehr wie zuvor. Unsere Herzen sind erschüttert. Wir denken voller Trauer an die 1400 Menschen, die von der Hamas in Israel ermordet wurden. Und wir sind in grosser Sorge um die mehr als 200 entführten Geiseln. Aber wir erhalten eindrückliche Solidaritätsbekundungen, viele Briefe, Mails, Anrufe und Unterstützungsangebote. Das berührt uns sehr.

«Holocaust-Überlebende haben Vertrauen in die junge Generation.»

Gibt es auch Hoffnung?

Winter: Viele Holocaust-Überlebende sagen immer wieder, sie hätten Vertrauen in die junge Generation. Es sei berührend, wie die jungen Menschen ihre Herzen öffneten, wenn sie von Holocaust-Erfahrungen hörten. Das macht uns Hoffnung.

Schweizer Einsatz für Holocaust-Überlebende in Israel

Die in der Schweiz ansässige Gamaraal-Stiftung engagiert sich seit 2014 für Holocaust-Überlebende. Seit dem Angriff von Hamas-Terroristen auf Jüdinnen und Juden in Israel engagiert sie sich auch für Holocaust-Überlebende im Kriegsgebiet im Nahen Osten. Vor allem im Süden ist sie laut Stiftungspräsidentin Anita Winter tätig – gemeinsam mit einer lokalen Partnerorganisation. Dabei gehe es primär um die Grundversorgung der rund 1500 Holocaust-Überlebenden vor Ort, also vor allem um Nahrung und Hygieneprodukte. (rp)

Der letzte Anlass der Ringvorlesung «Letzte Überlebende der Shoa» findet am 18. Dezember von 18.15–19.45 Uhr an der Universität Zürich statt. 


Anita Winter präsidiert eine Stiftung für Holocaust-Überlebende
9. November 2023 | 10:38
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