Angela Berlis ist Professorin für Geschichte des Altkatholizismus und Allgemeine Kirchengeschichte an der Universität Bern.
Theologie konkret

Angela Berlis: «Frauenpriestertum und Ehe für Alle sind theologisch möglich»

Die römisch-katholische und die christkatholische Kirche teilen ihr theologisches Fundament. Dennoch kennt die christkatholische Kirche das Frauenpriestertum und die Ehe für Alle. Ein Gespräch mit Angela Berlis über katholische Theologie und die Frage, wie sich Tradition und Moderne vereinen lassen.

Annalena Müller 

Frau Berlis, Sie waren eine der ersten Priesterinnen der altkatholischen Kirche. Gab es vor der Einführung der Frauenordination theologische Debatten?

Angela Berlis*: Natürlich. Die Frage der Frauenordination wurde seit der Mitte der 1970er Jahre stark diskutiert. Zunächst war die Haltung der altkatholischen Bischöfe ganz ähnlich wie die der römisch-katholischen Kirche.

Beide Kirchen verfügen über das gleiche theologische Fundament, da es erst nach 1870 zur Trennung kam.

Berlis: Genau. 1976 schrieben die altkatholischen Bischöfe in einer gemeinsamen Erklärung, dass Frauen nicht zum dreifachen Amt, also dem Diakonat, Priester- und Bischofsamt, zugelassen werden können. Die Begründung war: Jesus habe zwölf Männer berufen, und die Ordination von Frauen stehe im Widerspruch zur Tradition.

«Denn die Argumente waren ja sehr ähnlich.»

In der römisch-katholischen Kirche befasste man sich zeitgleich mit der Frage.

Berlis: Ja, es gab ein viel umfangreicheres Dokument, «Inter Insigniores», mit ähnlichen Schlüssen. Die weitere Diskussion in der christkatholischen Kirche hat übrigens von den Diskussionen in der römisch-katholischen und anglikanischen Kirche profitiert. Denn die Argumente waren ja sehr ähnlich.

Gleichberechtigung. Punkt. Amen.
Gleichberechtigung. Punkt. Amen.

Und dennoch ist die christkatholische Kirche schliesslich zu einer anderen Konklusion gekommen als die römisch-katholische. Wie kam das?

Berlis: Das hat mit verschiedenen Faktoren zu tun. In der christkatholischen Kirche hat man überlegt, ob es sich um eine Frage des Glaubens oder um eine Frage der Disziplin handelt.

«Die altkatholischen Kirchen sind zur Erkenntnis gekommen, dass die Frage der Frauenordination nicht als Glaubensfrage zu betrachten ist.»

Wo liegt der Unterschied?

Berlis: Eine Frage des Glaubens steht auf einer Stufe mit der Lehre über die Dreifaltigkeit oder über die zwei Naturen von Jesus Christus. Das waren Fragen, die ökumenische Konzilien** in der Alten Kirche nach sehr langwierigen Debatten geklärt haben.

Und Fragen, welche die Disziplin betreffen?

Berlis: Bei einer Frage der Disziplin geht es darum, ob etwas aus Gründen der Ordnung eingeführt wurde und deshalb veränderbar ist. Ein Beispiel dafür ist der Zölibat für Priester, der in der Westkirche erst ab dem 13. Jahrhundert zum Kirchengesetz wurde. Die altkatholischen Kirchen sind zur Erkenntnis gekommen, dass die Frage der Frauenordination nicht als Glaubensfrage zu betrachten ist, dennoch aber eine hohe theologische Bedeutung hat.

«Auch die Tradition muss historisch kontextualisiert werden.»

Nachdem das grundsätzlich geklärt war, wie hat man sich der Frage genähert?

Berlis: Wie die römisch-katholische setzen sich auch christkatholische Theologie und Kirche mit der Bibel und der Tradition auseinander, um theologische Antworten zu finden. Bei der Frage des Priestertums taugt die Bibel allerdings nur bedingt als direkter Wegweiser. In den frühen Gemeinden waren die Ämter noch kaum entwickelt. Dass zum Beispiel die Apostel die ersten Bischöfe waren, lässt sich so nicht sagen.

Unter den Aposteln sollen auch Frauen gewesen sein. Letztes Abendmahl, Transparent an der Karwoche-Prozession in Mendrisio, 2021
Unter den Aposteln sollen auch Frauen gewesen sein. Letztes Abendmahl, Transparent an der Karwoche-Prozession in Mendrisio, 2021

Selbst wenn die Bibel uneindeutig ist, bleibt die Hürde der Tradition. Priester sind seit dem frühen Christentum männlich…

Berlis: Hier ist der historische Befund ebenfalls komplizierter. Auch die Tradition muss historisch kontextualisiert werden. Wir sind uns heute sehr bewusst, dass wir Quellen genauer lesen müssen. Dabei müssen wir sie auch hinsichtlich ihrer frauenfeindlichen Tendenzen kritisch befragen. Das ist übrigens keine christkatholische Erkenntnis. Auch in der römisch-katholischen Kirche wird hier differenziert argumentiert und das führt zu Anpassungen.

Zum Beispiel?

Berlis: Zum Beispiel in der Einheitsübersetzung von 2016. Dort wird Junia im 16. Kapitel des Römerbriefs nicht mehr als Mann, sondern wie in der Antike, als Frau und damit als Apostelin ins Deutsche übersetzt. Oder es wird in Predigten die Deutung von Maria Magdalena als erste Zeugin der Auferstehung und ihre Bedeutung als «Apostelin der Apostel» hervorgehoben. Allgemein gesprochen zum Thema Tradition: Man muss jeweils kritisch differenzieren, ob es sich wirklich um eine Tradition mit einem «grossen T» handelt. Oder ob es eine Praxis ist, die historisch gewachsen ist.

Papst Pius IX. (1846-1878) war der letzte Papst, der noch über ein eigenes Staatsgebiet herrschte.
Papst Pius IX. (1846-1878) war der letzte Papst, der noch über ein eigenes Staatsgebiet herrschte.

Liegt in dieser kritisch-historischen Reflexion ein zentraler Unterschied zwischen der christkatholischen und der römisch-katholischen Herangehensweise?

Berlis: Sowohl für Christ- als auch für römische Katholiken und Katholikinnen ist die Tradition mit grossem «T» zentral. Gleichzeitig ist die Einbeziehung der historisch-kritischen Betrachtung für die christkatholische Theologie seit dem 19. Jahrhundert prägend. Und damit einhergehend auch die Schlussfolgerung, dass historisch gewachsene Dinge – insbesondere dann, wenn sie zu einer Fehlentwicklung führen – geändert werden können.

«Die späteren Christkatholiken argumentierten hier also auch historisch.»

Liegt in diesem Verständnis einer der Trennungsgründe der christkatholischen von der römisch-katholischen Kirche?

Berlis: Der historisch-kritische Ansatz war sicher einer der Streitpunkte zwischen Katholiken im 19. Jahrhundert. Zum Bruch mit Rom kam es, weil verschiedene Katholiken und Katholikinnen nicht bereit waren, die Unfehlbarkeit des Papstes und seinen Jurisdiktionsprimat als neue verbindliche Glaubenslehre anzuerkennen. Sie hielten beides für nicht dogmatisierbar, weil sie der Ansicht waren, dass diese Lehren weder durch die Bibel noch durch die Tradition abgestützt seien. Die späteren Christkatholiken argumentierten hier also auch historisch.

Wie sah diese Argumentation konkret aus?

Berlis: Die Gegner der päpstlichen Unfehlbarkeit verweisen während der Diskussionen am Ersten Vatikanum unter anderem auf die sogenannte Honorius-Frage. Papst Honorius I. war 681 vom 3. Ökumenischen Konzil postum als Häretiker verurteilt worden. Für Gegner der Unfehlbarkeit im 19. Jahrhundert war damit erwiesen, dass Päpste nicht unfehlbar waren. Befürworter der Unfehlbarkeit spielten das historische Argument herunter. Heutige Forschende sagen, damals habe das Dogma die Geschichte besiegt. Das gilt auch für die Unbefleckte Empfängnis Marias, die Papst Pius IX. 1854 zur Glaubenslehre erhob.

Unbefleckte Empfängnis von El Escorial
Unbefleckte Empfängnis von El Escorial

Wie steht die Christkatholische Kirche zu dieser Frage?

Berlis:  Für uns ist es kein Dogma, also keine verbindliche Glaubenslehre. Doch kann ich als christkatholische Theologin durchaus sagen: Wenn jemand persönlich glaubt, dass Maria unbefleckt empfangen worden oder leibhaftig in den Himmel aufgenommen worden ist, wenn das jemandem hilft in deinem persönlichen Glauben, bin ich die Letzte, die ihm oder ihr widersprechen würde. Aber dies verbindlich glauben zu müssen, geht zu weit.

«Auch die christkatholische Kirche kennt Dogmen.»

Individueller Glaube versus Dogma, das zum Glauben verpflichtet. Wer als römischer Katholik oder Katholikin nicht akzeptiert, dass Maria unbefleckt empfangen wurde, ist automatisch exkommuniziert.

Berlis: Auch die christkatholische Kirche kennt Dogmen. Aber nur solche, die von den sieben Ökumenischen Konzilen definiert wurden, also bis zum Zweiten Konzil von Nicaea (787), und allgemein rezipiert wurden. Die wichtigsten verbindlichen Lehren, nämlich die Trinität und die Christologie sind im sogenannten Nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis zu finden. Dieses Glaubensbekenntnis wird in den meisten christlichen Kirchen gebetet. Aus christkatholischer Sicht spielt also auch die Rezeption von Dogmen, also ihre Annahme oder Ablehnung, eine wesentliche Rolle.

«Wichtig ist, was uns als Kirchen verbindet.»

Weniger Konzilien und weniger Dogmen, macht dies die christkatholische Kirche flexibler, was grundlegende Reformen angeht?

Berlis: Viele Kirchen stimmen im Hinblick auf den Stellenwert der Ökumenischen Konzilien des ersten Jahrtausends überein. Wichtig ist, was uns als Kirchen verbindet. Es ist zudem klärend, theologisch Wesentliches von theologisch weniger Zentralem zu unterscheiden. Zu ihrer Frage genauer: Man muss bedenken, dass die Christkatholiken und Christkatholikinnen des 19. Jahrhunderts sich nicht nur als Protestbewegung gegen die neuen vatikanischen Dogmen verstanden, sondern schon bald vor allem als Reformbewegung.

Was heisst das genau?

Berlis: Man wollte die Kirche von «Missbräuchen reinigen», wie man damals sagte. Darunter verstand man Reformen auf dem Gebiet der Disziplin, zum Beispiel die Abschaffung des Zölibats. Aber auch auf dem Gebiet der Liturgie. So schaffte man viele Heiligenfeste ab, die den Sonntag als Tag des Herrn überwuchert hatten, und führte die Volkssprache in die Liturgie ein. Das Anliegen war, dass die Gläubigen den Gottesdienst mitvollziehen konnten. Also auch hier die Frage: Worum geht es im Kern? Viele dieser Reformen hat das Zweite Vatikanische Konzil für die römisch-katholische Kirche ebenfalls durchgeführt.

Angela Berlis ist das wissenschaftliche Gesicht der christkatholischen Kirche in der Schweiz.
Angela Berlis ist das wissenschaftliche Gesicht der christkatholischen Kirche in der Schweiz.

Und dennoch bleiben fundamentale Unterschiede – über die Frauenordination haben wir bereits gesprochen. Aber die christkatholische Kirche kennt auch die sakramentale Ehe für Alle. Wie hat man das theologische Dilemma gelöst, dass die Ehe eine Verbindung ist, die allein der Fortpflanzung dient?

Berlis: Diese Auffassung teile ich nicht. Sie geht auf Augustinus (†430) zurück, einen Theologen, den ich übrigens sehr schätze. Aber selbst der Kirchenvater Augustinus war ein Mensch, der in einem bestimmten Kontext gesellschaftlich, theologisch und philosophisch agiert, gedacht und geschrieben hat. Ein solches Verständnis für den historischen Kontext macht es einfacher zu sagen, dass einige seiner Vorstellungen und Wahrnehmungen aus heutiger Sicht problematisch sind. Dazu gehört die Vorstellung, dass beim Geschlechtsakt die «Erbsünde» übertragen werde und dieser dann nur für die Fortpflanzung legitim erscheint.

«Es ist die Herausforderung für uns heute, genauer zu fassen, was darunter zu verstehen ist.»

Was steht Ihrer Meinung im Zentrum der sakramentalen Ehe?

Berlis: Nach christkatholischer Auffassung wird die Ehe durch den Priester oder die Priesterin gesegnet. Die Kirche segnet Verbindungen zwischen Menschen, die in Liebe und Treue ihr Leben miteinander teilen und dies unter Gottes Segen stellen wollen.

"Love is love."
"Love is love."

Ganz ohne Augustinus?

Berlis: Augustinus ist doch nicht der einzige Theologe und Kirchenvater, der sich zur Ehe geäussert hat. Die Überlieferung ist vielstimmig. Die «Weitergabe des Lebens» sollte aus meiner Sicht auch weiterhin als Teil der Lebens- und Liebesgemeinschaft zweier Menschen angesehen werden. Es ist die Herausforderung für uns heute, genauer zu fassen, was darunter zu verstehen ist. Menschen erweisen sich in sehr unterschiedlicher Weise als offen dafür, sich in den Dienst der Weitergabe des Lebens zu stellen: etwa indem sie Kinder bekommen, Kinder adoptieren oder in einem weiteren Sinne Menschen Schutz bieten, die ihnen anvertraut werden.

*Angela Berlis (60) war zusammen mit Regina Pickel-Bossau die erste altkatholische Priestrin. Seit 2009 ist sie Professorin für Geschichte des Altkatholizismus und Allgemeine Kirchengeschichte an der Universität Bern.

**Ökumenische Konzilien

Ein ökumenisches Konzil ist eine Versammlung von Repräsentanten der gesamten Christenheit, die über zentrale Fragen des Glaubens und der Disziplin berät und entscheidet. So wurden grundlegende Dogmen – über die Trinität, über die gottmenschliche Natur Jesu Christi und die Rolle Mariens als Gottesgebärerin – auf solchen Konzilien beschlossen und in der Folge anerkannt und rezipiert.

Die meisten christlichen Kirchen – inklusive der christkatholischen, orthodoxen und protestantischen – erkennen Konzilien des ersten Jahrtausends als ökumenisch an, beginnend mit dem Ersten Konzil von Nicäa (325) und endend mit dem Zweiten Konzil von Nicäa (787).

Die römisch-katholische Kirche zählt weitere Versammlungen als ökumenische Konzilien – u.a. Lateran (1215), Trient (1545-63), sowie das Erste (1871) und das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65). Da diese nach der Trennung zwischen Ost- und Westkirche (1054) stattfanden, sind sie allerdings keine Repräsentationen der Gesamtchristenheit. Sie werden von den anderen Kirchen nicht als ökumenisch, sondern lediglich als römisch-katholische Generalsynoden angesehen. (am)


Angela Berlis ist Professorin für Geschichte des Altkatholizismus und Allgemeine Kirchengeschichte an der Universität Bern. | © zVg
20. August 2023 | 07:00
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Die Christkatholische Kirche der Schweiz gehört zu den Alt-Katholischen Kirchen der Utrechter Union. Im Interview wird terminologisch nicht zwischen «christkatholisch» und «altkatholisch» unterschieden.