Hedwig Kiesler (später Hedy Lamarr) in «Ekstase»
Schweiz

«Amoralität ohne Beispiel»: Das Kino «Royal» in Baden zeigt den Skandalfilm «Ekstase»

«Erregung auf Zelluloid»: Mit diesem Slogan wirbt die Filmreihe «Royal Scandal Cinema» in Baden. Am Donnerstag ist «Ekstase» dran. Der Film von 1933 zeigt den ersten weiblichen Orgasmus der Filmgeschichte. Der «Osservatore Romano» war empört.

Raphael Rauch

Wovon handelt der Film «Ekstase»?

Martin Bürgin*: Von Adam und Eva, die sich verlieben. Allerdings sind wir nicht im Paradies, sondern in der Zeit um 1930. Eva ist mit Emil verheiratet. Der ist ein älterer, unbeholfener Mann, der die Leidenschaft der jungen Frau weder in romantischer noch in sexueller Hinsicht zu befriedigen weiss. Eva flieht zu ihrem Vater und reicht die Scheidung ein. Während eines Ausritts mit ihrem Pferd trifft sie auf den galanten Adam. Die gemeinsame Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf.

Der Historiker Martin Bürgin im Kino "Royal" in Baden.
Der Historiker Martin Bürgin im Kino "Royal" in Baden.

Warum hat der Film für einen Skandal gesorgt?

Bürgin: Den Konservativen trat Eva zu emanzipiert auf. Das zeigt sich in ihrem Willen, ihren Ehegatten zu verlassen und nach romantischer Liebe zu suchen. Das zeigt sich aber auch an ihrem Verlangen nach sexueller Befriedigung: «Ekstase» ist wahrscheinlich der Film, der den ersten weiblichen Orgasmus visuell in Szene setzt – abgesehen natürlich von pornographischen Produktionen. Die Kamera fokussiert dabei auf das freudig erregte Gesicht von Eva. Hier wird nichts vermeintlich Anrüchiges gezeigt.

Trotzdem wurde die Szene zum Skandal?

Bürgin: Ja. Der Film propagiert, dass weibliche Sexualität mehr als bloss passives Empfangen und anschliessendes Gebären ist. Er ermutigt Frauen, sexuelle Erfüllung zu suchen. Dieses Verständnis von Sexualität war in den 1930er-Jahren alles andere als selbstverständlich. Darüber hinaus beinhaltet der Film eine zehnminütige Nacktszene. Das war für die Konservativen zu viel des Guten. Katholische Kritikerinnen und Kritiker haben sich auch über die Scheidung aus romantischen Gründen empört, über Ehebruch und das Begehen von Selbstmord.

«Ein Papst, der öffentlich einen Film verdammt? Ich würde hier eher ein Fragezeichen setzen.»

Stimmt es, dass Papst Pius XI. den Film verdammt hat?

Bürgin: Das Gerücht hält sich hartnäckig. Renommierte Medien wie die BBC, die «New York Times» und der «Guardian» schreiben das, als wäre es Fakt. Auch das eine oder andere filmhistorische Buch nimmt die Aussage auf. Einen Beleg dafür, wo, wann und in welcher Form Pius XI. den Film verdammt hätte, bringt aber keine dieser Publikationen. Ein Papst, der öffentlich einen Film verdammt? Ich würde hier eher ein Fragezeichen setzen. Das entspricht nicht unbedingt den kommunikativen Gepflogenheiten des Vatikans.

Papst Pius XI. um 1930 im Vatikan.
Papst Pius XI. um 1930 im Vatikan.

Wie könnte das Gerücht entstanden sein?

Bürgin: Der «Osservatore Romano» hat über den Film hergezogen. Da wurde «Ekstase» als eine «Amoralität ohne Beispiel» beschrieben. Klar ist, dass «Ekstase» nicht dem katholischen Lehramt und den Moralvorstellungen entsprach, die Papst Pius XI. propagierte. Skandalberichterstattung ist allerdings geprägt durch Überzeichnungen und Halbwahrheiten. Es kann gut sein, dass ein Journalist aus dem Bericht im «Osservatore Romano» eine päpstliche Aussage machte und die anderen Journalisten dann genüsslich abschrieben.

«Pius XI. fürchtete einen ‘sittlichen und religiösen Schiffbruch’.»

Es würde ins Bild passen: Papst Pius XI. hat die Erziehungsenzyklika «Divini illius magistri» verfasst. Er warnt vor der schulischen Sexualerziehung und den Gefahren von Schundliteratur, Film und Radio.

Bürgin: Das Kino als Ort der Versuchung – das ist ein typischer Topos. Die Enzyklika warnt vor «glaubenslosen und schlüpfrigen, vielfach geradezu in dämonischer Art zu Spottpreisen vertriebenen Schriften, in den Kinos und Rundfunkdarbietungen». Pius XI. fürchtete einen «sittlichen und religiösen Schiffbruch für die unerfahrene Jugend», und zitierte den Heiligen Augustinus, der darüber seufzte, wie sich die Christen seiner Zeit zu Zirkusspielen hinreissen liessen.

Der Moment der Entstehung der Erbsünde. Darstellung des Sündenfalls im 17. Jahrhundert.
Der Moment der Entstehung der Erbsünde. Darstellung des Sündenfalls im 17. Jahrhundert.

Haben sich nur katholische Kreise an dem Film gestört?

Bürgin: Nein, denn die Moralvorstellungen in Bezug auf Sexualität und Nacktheit waren anfangs der 1930er-Jahre im konservativen Milieu konfessions- und religionsübergreifend eher strikt. Andererseits gab es unter den Katholikinnen und Katholiken auch viele liberal gestimmte, die sich den Film durchaus gerne angeschaut haben.

Wurde der Film zensiert?

Bürgin: Ja. Je nach Land, Geschmack und geltendem Zensurrecht wurde der Film neu geschnitten. Er existiert in zahlreichen, voneinander abweichenden Fassungen. Spannend ist die Situation in den USA. Dort hat sich die «Legion of Decency» eingemischt – das ist eine katholische Laienorganisation. Sie drängte die Filmindustrie dazu, nur noch Filme zu produzieren, die in ihrem Sinne moralisch akzeptabel waren. Die «Legion of Decency» sorgte mit Protesten und Agitation dafür, dass verschiedene US-Bundesstaaten «Ekstase» der Zensur unterwarfen oder die Entfernung expliziter Szenen forderten.  

Protestmarsch der katholischen "Legion of Decency".
Protestmarsch der katholischen "Legion of Decency".

Wie mächtig war die «Legion of Decency»?

Bürgin: Das war eine mächtige Pressure Group, unterstützt von Bischöfen und führenden Politikern. Sie erreichte, dass in den USA 1934 der sogenannte «Production Code» oder auch «Hays Code» für verbindlich erklärt wurde. Mit diesem wurde die Darstellung von moralischen, sexuellen, politischen und religiösen Inhalten reguliert. Der Code garantierte eine Kontrolle der Filmindustrie unter Miteinbezug kirchlicher Sittenwächterinnen und Sittenwächter von 1934 bis zu seiner Abschaffung 1967.

«Die visuelle Darstellung von Lust war verboten.»

Wie musste ein Film sein, damit er dem «Production Code» entsprach?

Bürgin: Sex vor der Ehe oder Ehebruch dürfen unter keinen Umständen als gerechtfertigt oder attraktiv thematisiert werden. Die visuelle Darstellung von Lust war verboten. Komplette Nacktheit war untersagt. Von der Darstellung von Selbstmord wird abgeraten – ausser, die Szene ist für die Entwicklung der filmischen Handlung absolut notwendig.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen «Ekstase» und der Einführung des «Production Code»?

Bürgin: «Ekstase» war natürlich nicht der einzige Grund, um den «Production Code» einzuführen. Doch die Empörung über «Ekstase» und die Skandalisierung durch die «Legion of Decency» waren wesentliche Treiber. Wir sehen dann auch: Alle bei «Ekstase» skandalisierten Filmmomente waren nach Einführung des Codes verboten.

Düstere Wolken über dem Vatikan.
Düstere Wolken über dem Vatikan.

Hat die in der Enzyklika «Divini illius magistri» propagierte Sexualmoral mit dem «Production Code» Einzug in Hollywood gehalten?

Bürgin: Ich finde, das kann man so sagen. Natürlich gab es weiterhin die sogenannten «Independent Studios», die sich nicht an den Code hielten. Die grossen Studios – und dafür steht «Hollywood» ja – hielten sich bis in die 1960er-Jahre aber weitgehend an den Code.

«Für Liberale war ‘Ekstase’ auch 1933 schon harmlos.»

Ist der Film «Ekstase» aus heutiger Sicht harmlos?

Bürgin: Das ist damals wie heute Ansichtssache. Für Liberale war «Ekstase» auch 1933 schon harmlos. Persönlich halte ich ihn für einen sehr schönen und filmhistorisch bedeutenden Film, den man sich unbedingt einmal anschauen sollte.

* Der Historiker Martin Bürgin (38) ist Assistent für Kirchengeschichte am Institut für Christkatholische Theologie der Universität Bern und Dozent am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Die Filmreihe «Royal Scandal Cinema» zeigt den Film «Ekstase» am Donnerstag, 17. Februar, um 20 Uhr im Kino «Royal» in Baden. Bernd Herzogenrath, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt, hält eine Einführung. Eintritt: Kollekte, es gilt 2G+.


Hedwig Kiesler (später Hedy Lamarr) in «Ekstase» | © Filmstill
13. Februar 2022 | 12:36
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