Auf einer schlichten Holztafel ein grosser Theologe.
Theologie konkret

Am Grab von Karl Rahner: Was die Herzen gewinnt, überdauert den Tod

Wer in der Jesuitenkirche in Innsbruck in die Gruft hinab steigt, findet auf Holztafeln das «Who is Who» theologischer Grössen. Vor einigen der Namenstafeln brennen Kerzen, so auch bei Karl Rahner, der am 5. März vor 120 Jahren geboren wurde. Doch wer interessiert sich heute noch für deren geistige Errungenschaften, die einst halfen, dass Zweite Vatikanum zum Leben erwecken und europäische, katholische Theologie relevant zu machen? Ein Gespräch auf dem Karl-Rahner-Platz mit Professor Roman Siebenrock und Josef Walder.

Sabine Zgraggen

Seit den Nuller-Jahren nehmen die Studierendenzahlen auch in Innsbruck dramatisch ab. «Sie haben sich auf etwa 500 – 600 halbiert», sagt Roman Siebenrock (67), profunder Kenner des Karl-Rahner-Archives. Was für Schweizer Ohren noch immer fantastisch klingt, treibt dem Lehrkörper in Innsbruck Sorgenfalten in die Stirn: «Sorgen macht uns besonders der Rückgang von weiblichen Studierenden», sagt Siebenrock und ergänzt, dass die 100 Doktoranden – davon zwei Drittel aus dem Ausland – nicht darüber hinwegtäuschen können.

Mindestens zehn Gründe – auch der Missbrauchsskandal

Josef Walder (47), ebenfalls promovierter Theologe, Dozent an der Universität Innsbruck und in der Ausbildung von jungen Religionslehrerinnen und -lehrern tätig, pflichtet dem bei: «Das hat mindestens zehn Gründe, einer davon ist der Vertrauensverlust nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle, aber nicht nur.»

Nomen est omen
Nomen est omen

An Raymund Schwager, den grossen Schweizer Dogmatiker und ökumenischen Theologen, denkt Walder mit grossem Respekt zurück. Die Relevanz seiner Theologie könnte nicht aktueller sein, findet er. So veröffentlichte Raymund noch 2003, ein Jahr vor seinem Tod, einen Text der Innsbrucker Forschungsgruppe «Religion-Gewalt-Kommunikation-Weltordnung», die sich mit dem schweren politischen Konflikt zwischen Israel und Palästina auseinandersetzte.

Darin schrieb er: «Das Vertrauen auf den einen Schöpfergott ruft alle Gläubigen der drei abrahamitischen Religionen dazu auf, die Geschichten der Religionen mit ihren vielen Konflikten in einem gemeinsamen Licht zu sehen.»

«Kraft der Hoffnung»

Schwagers Erkenntnis: «Es ist die Kraft der Hoffnung und die Erfahrung, dass gerade aus Niederlagen, wenn sie ohne Verbitterung und Rachegedanken angenommen werden, eine Kraft des Friedens aufbrechen kann. Was die Herzen gewinnt, das dauert in der Geschichte und überdauert den Tod.»

Und weil es ihm so wichtig ist, wiederholt es Walder nochmals «Was die Herzen gewinnt, überdauert den Tod!» und genau das gelinge der Kirche und Theologie heute kaum noch.

Professor Roman Siebenrock
Professor Roman Siebenrock

Allerdings habe sich noch etwas anderes verändert, ergänzt Siebenrock: «Von unserer Zeit her betrachtet, gibt es heute ganz andere Voraussetzungen im Verstehen. Früher gab es einen schultheologischen Drill und eine ganz andere Vorbildung.»

Dorthin möchte man nicht zurück, doch müssen die denkerischen Voraussetzungen neu zugänglich gemacht werden, um die Inhalte eines Rahner und Schwager überhaupt wieder verstehen zu können. «Jetzt passiere, was immer passiert, wenn eine so grosse Generation geht: «Man braucht eine Pause, sonst lebt man immer im Schatten der Vorgänger», zeigt sich Siebenrock überzeugt.

«Zunehmendes Interesse an Rahner»

Geht die katholische europäische Theologie nicht einfach sang und klanglos unter? Dazu Siebenrock: «Nein, es gibt wieder ein zunehmendes Interesse an Rahner. Nicht nur wegen seiner akademischen, sondern wegen seiner prophetischen Qualität. Wenn wir heute von Kirche als einer Minderheit, von mehr Demokratie in der Kirche und dem Priestertum der Frau sprechen, so finden wir das alles schon bei Rahner in den 1950er Jahren. Er hat denkerisch viele Dinge vorweggenommen!» Eine neue Generation, die sich nicht extra von ihm absetzen muss, werde ihn deshalb neu entdecken.

Dozent Dr. Josef Walder
Dozent Dr. Josef Walder

Wir sollten von den Jungen lernen, sagt auch Walder: «Grundsätzlich sind junge Menschen sehr offen und neugierig gegenüber Religion und der Frage nach Gott. Aber was Glaube und Religion betrifft, suchen sie religiöse Formen heute eher jenseits institutioneller Bindungen.

Sinnhaftigkeit auf der Yogamatte

Zugespitzt: Sie sehnen sich wie vorherige Generationen nach Trost, Sinnhaftigkeit und einem gelingenden Leben, aber sie suchen das nicht mehr in der Kirche, sondern auf der Yogamatte und an anderen Orten.

Die Theologen Karl Rahner und Joseph Ratzinger (rechts) 1972
Die Theologen Karl Rahner und Joseph Ratzinger (rechts) 1972

Zudem leben junge Menschen und Religionslehrerinnen und Lehrer heute in unterschiedlichen und sich ständig wandelnden Lebenswelten. Die Anforderungen in Schulen, Ausbildung und Beruf wachsen. Für Religionslehrinnen und Religionslehrer geht es letztlich darum, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns trägt.»

Neue Interpretation des Zweiten Vatikanums

Für Siebenrock geht es neu wieder um die Frage, wie wir das 2. Vatikanische Konzil aus dem Heute heraus interpretieren sollen. Erst jetzt, nachdem Joseph Ratzinger tot ist, könne eine neue Form der Interpretation kommen. Denn der Letzte, der aktiv dabei war, ist jetzt tot: «Nun kann die neue Generation die Texte neu auslegen, wie sie will. Und zwar nicht allein in Europa, sondern weltweit.»

Seit dem Zweiten Vatikanum sind Laiinnen und Laien in der katholischen Kirche auf dem Vormarsch.
Seit dem Zweiten Vatikanum sind Laiinnen und Laien in der katholischen Kirche auf dem Vormarsch.

«Erst durch das 2. Vatikanische Konzil ist die Kirche eine Weltkirche geworden», wie es Rahner deutete. Die deutsche Theologie wird in Zukunft deshalb nur noch eine kleine Mitstimme haben. Niemand wird mehr nach der europäischen Theologie pfeifen oder tanzen. Niemand hätte aber auch mehr die Möglichkeit nur eine Theologie zu bestimmen. Dafür seien die Theologien in den jungen, anderen Kirchen viel zu gut. Diese neue und auch demütige Nüchternheit müssen wir anerkennen: «Und dann wird man sehen, was passiert», so Siebenrock.

Auch in den USA gelesen

Karl Rahner wird in den USA zwar auch gelesen, beforscht, aufgenommen, bejubelt und kritisiert. Weil der amerikanische Katholizismus in sich selbst tief gespalten ist, wird Rahner einerseits als der Zerstörer der Kirche, andererseits als grosser Prophet gesehen. Auch in Indien und Afrika entdecken sie seine Theologie neu. Aktuell hat Siebenrock 10 Doktorandinnen und Doktoranden, die sich Rahners Theologie annehmen. Zwei davon aus Indien.

Eingang zur Jesuitengruft in Innsbruck
Eingang zur Jesuitengruft in Innsbruck

Ob der Eindruck stimme, dass diejenigen, die heute Theologie studieren, eher konservativer denken: «Ja, in den letzten Jahren ist eine verstärkte Hinwendung Junger zu fundamentalistischen Glaubensformen beobachtbar. Diese kann auch als Antwort auf die erfahrene Unüberschaubarkeit und auch auf die in den vergangenen Jahrzehnten in Europa stattgefundene Verdrängung alles Religiösen aus dem öffentlichen Leben verstanden werden.

Die Herausforderung an eine Bildungseinrichtung ist, die komplexe Realität, in der wir leben, nicht übermässig zu vereinfachen und zugleich verständlich zu bleiben. Das heisst, es bedarf zweier Momente: Der theologischen Reflexion und die eigenen Glaubenserfahrung. Karl Rahner, ein Meister der Reflexion, gibt hier der Glaubenserfahrung sogar den Vorrang.»

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*Josef Walder (47) war nach seinem Theologiestudium und Doktorat an der Universität Innsbruck (1992 – 2000) zunächst Pastoralassistent und Religions-Lehrer. Danach wirkte er 14 Jahre im Bischofsbüro als theologischer Referent von Bischof Manfred Scheuer. Seit 2018 ist er an der KPH Edith Stein, der kirchlich Pädagogischen Hochschule, Dozent in den Fachbereichen Systematische Theologie und Interkulturalität und Interreligiosität.

Univ.-Prof. Mag. Dr. Roman A. Siebenrock (67), ist seit 2022 im Ruhestand. Er ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. Er war von 2006 bis 2022 Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck und Leiter des Karl-Rahner-Archivs. Die Original-Rahner Schriften sind inzwischen nach München ausgelagert worden.


Auf einer schlichten Holztafel ein grosser Theologe. | © Sabine Zgraggen
3. März 2024 | 07:00
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