Alfred Bodenheimer
Schweiz

Alfred Bodenheimer: «Keiner traut dem anderen, dass er ihn leben lassen will»

Alfred Bodenheimer lebt in Israel und der Schweiz. Ein Gespräch über Krieg, erwachenden Antisemitismus in der Schweiz und warum die Wiedergeburt der Zweistaatenlösung in Europa populär, aber in Israel eigentlich kein Thema ist.

Annalena Müller

Herr Professor Bodenheimer, Sie leben halb in Israel, halb in der Schweiz. Wo fühlen Sie sich sicherer?

Alfred Bodenheimer*: In Israel lebe ich in Galiläa, etwa 20 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt. Einige Orte in unmittelbarer Nähe der Grenze sind nach dem 7. Oktober evakuiert worden. Da wohnt niemand im Moment. Sicher kann man sich dort nicht fühlen. Auf einer Plantage nahe der Grenze wurde unlängst ein indischer Landarbeiter von einem Geschoss der Hisbollah getötet. Aber ich glaube, in der Geschichte Israels gab es nie einen Moment, in dem man sagen konnte, man sei in Israel sicherer als in der Schweiz.

Alfred Bodenheimer im Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel
Alfred Bodenheimer im Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel

Hat sich Ihr Gefühl der prinzipiellen Sicherheit nach dem Anschlag auf einen orthodoxen Juden in Zürich geändert?

Bodenheimer: Ich trage hier nach wie vor meine Kippa und habe persönlich kaum je negative Erfahrungen gemacht. Aber ja, die Messerattacke in Zürich hat das Sicherheitsgefühl schon beeinträchtigt.

Seit dem 7. Oktober schaut die Welt wieder angespannt nach Nahost. Was auffällt: Auf Friedensdemonstrationen wird auch in der Schweiz oft der Slogan «from the river to the sea» skandiert. Obwohl mittlerweile bekannt ist, dass er das Existenzrecht Israels in Abrede stellt. Wie erkläre Sie sich die Einseitigkeit der Sympathien?

Bodenheimer: Viele Menschen, die solche Slogans rufen, wissen wahrscheinlich nicht genau, worum es in diesem Konflikt geht. Es ist ein so komplexer Konflikt mit Recht und mit Unrecht auf beiden Seiten. Ich bin auch nicht sicher, ob alle wissen, welcher «river» und welches «sea» gemeint ist. Aber es ist natürlich klar, wenn man ein gewisses Bild hat, dass es Starke und Schwache gibt, dann solidarisiert man sich mit den Schwachen.

Free-Palestine-Demonstration in Berlin, 4. November 2023
Free-Palestine-Demonstration in Berlin, 4. November 2023

Ich glaube, die Solidarität mit den Palästinensern an und für sich ist etwas vollkommen Nachvollziehbares. Was mich aber am erschreckt hat, ist der Anlass, aus dem die aktuelle Solidarität erwächst.

Was meinen Sie?

Bodenheimer: Der Anlass ist ein Massaker an jüdischen Menschen. Wäre der Anlass der Überfall in Huwara, als im letzten Frühjahr eine marodierende Gruppe durch das palästinensische Dorf zog und ganze Quartiere abgefackelt hat und ein israelischer Minister das gewissermassen legitimiert hat, dann hätte ich das besser verstanden. Hier war der Anlass ein Massaker an 1200 Juden, als wäre das ein Auslöser, auf den alle gewartet haben. Was mich auch besorgt: Hinter dem Slogan «from the river to the sea» steht diese Idee des Alles oder Nichts.

«Dass wir heute dort stehen, wo wir stehen, hat mit den extremistischen Kräften auf beiden Seiten zu tun.»

Dass wir heute in Israel und den palästinensischen Gebieten dort stehen, wo wir stehen, hat mit den extremistischen Kräften auf beiden Seiten zu tun. Sie sind die Profiteure dieser grossen Katastrophe, die hektoliterweise Blut gekostet hat. Mir ist immer wichtig, den Leuten zu sagen: Wenn es irgendjemanden gibt, der die Interessen der Palästinenser sabotiert, ist das die Hamas.

Inwiefern?

Bodenheimer: Die Hamas will, dass die Palästinenser Teil eines islamisierten Nahen Ostens sind. Ihnen, wie auch anderen extremistisch-islamistischen Kräften der Region, geht es nicht um die Lebenschancen und Rechte der Palästinenser. Und auch nicht wirklich um einen eigenen Staat. Wenn man von einer politischen Perspektive ausgeht, ist die Hamas daher der grösste Saboteur der palästinensischen Möglichkeiten.

Ausgebrannte Autos und ein Gebäude in Huwra in der Westbank.
Ausgebrannte Autos und ein Gebäude in Huwra in der Westbank.

Wie wird die Einseitigkeit der Sympathien in der israelischen Gesellschaft wahrgenommen?

Bodenheimer: In rechten Kreisen wird es als eine Bestätigung gesehen, dass es sich ohnehin nicht lohne, sich an internationalen Forderungen zu orientieren. Für die liberalen Kreise ist es hingegen ein grosser Schock. Zumal es weniger um Einseitigkeit geht als um ein Relativieren oder Ignorieren des Hamas-Terrors. Besonders die Wissenseliten Israels sind entsetzt. Darunter ist die weltweit vernetzte Hightech-Branche, die das Land wirtschaftlich am Leben erhält. Sie stellen ungefähr zehn Prozent der Beschäftigten und erwirtschaften 25 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Diese Bevölkerungsschicht ist Teil einer internationalen Community, die sich aus den nationalen engmaschigen Sichtweisen, wie sie in rechten Kreisen vorherrschen, befreien kann.

«Das liberale Israel hat gehofft ein ideologisches Gegenprogramm zu den aktuell dominierenden rechten Hardlinern aufbauen zu können.»

Menschen wie Sie, also?

Bodenheimer: Ja, ich zähle mich auch dazu. Für diese liberalen Kreise ist die Entwicklung in den USA und Teilen Europas ein Riesenschock. Wenn man sieht, dass Universitäten wie Harvard Orte sind, an denen sich jüdische Menschen nicht mehr sicher fühlen, dann wird einem der Teppich unter den Füssen weggezogen. Das liberale Israel hat gehofft, auch mit diesen Verbindungen ein ideologisches und politisches Gegenprogramm aufbauen zu können. Ein Gegenprogramm zu den aktuell dominierenden rechten Hardlinern in der israelischen Politik. Und diese Grundlage erweist sich jetzt als intellektuell und moralisch nicht tragfähig.

Die Uni Bern hat jüngst ein Institut aufgelöst. Die Urban Studies der Uni Basel mussten sich aufgrund von politischem Aktivismus einer Untersuchung unterziehen. Herrscht auch an Schweizer Universitäten ein antisemitisches oder anti-israelisches Klima?

Bodenheimer: Es ist unglaublich, was in Bern passiert ist. Ein Universitätsmitarbeiter, der offen Terror verherrlicht. Aber wenn man zwischen den Zeilen liest, scheint es dort schon länger gravierende Probleme gegeben zu haben.

Die Universität Bern stellt sich dem Skandal und leitet eine Untersuchung ein.
Die Universität Bern stellt sich dem Skandal und leitet eine Untersuchung ein.

An der Uni Basel scheint mir die Situation eine andere. Hier ging es im weiteren Sinne um eine inakzeptable Vermischung von Wissenschaft und politischem Aktivismus, die auch als solche erkannt und benannt wurde, mit Konsequenzen für den entsprechenden Fachbereich. Allgemein würde ich sagen, dass es an Schweizer Unis eher keinen Antisemitismus gibt. Zumindest in dem Sinne, dass sich jüdische Menschen nicht frei bewegen könnten. Aber es gibt auch hier Vertreterinnen und Vertreter antizionistischer Tendenzen, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Wie weit diese gehen werden, um die Agenda zu setzen, lässt sich aktuell noch nicht sagen.

Auf politischer Ebene erlebt die Idee der Zweistaatenlösung eine Renaissance. David Cameron sagte kürzlich, Grossbritannien könnte einen Palästinenserstaat anerkennen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz war es ebenfalls ein grosses Thema. Wird diese Diskussion auch in Israel geführt?

Bodenheimer: Die Diskussion wird in Israel unter anderen Vorzeichen geführt. In Israel diskutiert man über «den Tag danach», wie es so schön heisst…

Also, wie es nach Abschluss der israelischen Militäroffensive in Gaza weitergehen soll?

Bodenheimer: Genau. Netanjahu lässt – sicherlich bewusst – alles in der Schwebe. Er widerspricht höchstens in englisch geführten Interviews, aber nicht auf Hebräisch explizit den Rechtsextremen, die neue Siedlungen in Gaza errichten wollen.

Sicherheitsminister und Hardliner Itamar Ben Gvir will jüdische Siedlungen im Gazastreifen (28. Janaur 2024)
Sicherheitsminister und Hardliner Itamar Ben Gvir will jüdische Siedlungen im Gazastreifen (28. Janaur 2024)

Dafür verspricht er vollmundig: «Es wird unter mir keinen Palästinenserstaat geben». Und damit spricht er natürlich das Sicherheitsbedürfnis der Israelis an. Tatsächlich wird auch von Wortführern aus dem sogenannten Friedenslager wie dem Ex-General Yair Golan seit dem 7. Oktober allenfalls eine palästinensische Souveränität befürwortet, die israelischer Sicherheitskontrolle untersteht.

Wegen der Bedrohung, die durch eine eigene palästinensische Armee ausgehen würde?

Bodenheimer: Ja. Sehen Sie, wir haben die vom Iran gesteuerte Hisbollah im Libanon, die das Existenzrecht Israels nicht anerkennt und Israel bekämpft. Die Frage ist nun, ob in einem Staat Palästina dauerhaft eine Regierung herrschen würde, die eine friedliche Zweistaatenlösung vertritt und auch sichern kann.

Yair Golan gehört den "Friedenslager" an.
Yair Golan gehört den "Friedenslager" an.

Das Risiko, dass in der Westbank oder im Gazastreifen feindliche Armeen stehen, will niemand eingehen. Aus Sicht der Israelis herrscht eine grosse Ernüchterung nach dem 7. Oktober und ein tiefes Misstrauen. Es ist ein völlig anderer Blick als der europäische.

Gibt es ein Modell einer Zweistaatenlösung, das aus israelischer Sicht denkbar wäre?

Bodenheimer: Wenn überhaupt, dann nach einem längeren Übergang, der von internationalen Truppen gesichert würde. Dieser palästinensische Staat müsste eine entmilitarisierte Zone sein, damit keine direkte Gefahr von ihm ausgeht. Auch müsste gewährleistet sein, dass die internationalen Truppen, die den Frieden in der Region sichern, sich nicht zurückziehen, wenn es politisch heiss wird. So wie etwa die jahrzehntelang im Golan stationierten österreichischen UN-Truppen, die sich 2013 angesichts des syrischen Bürgerkriegs zurückzogen. Das kann ich auch verstehen. Warum sollten irgendwelche Angehörige unbeteiligter Staaten dort ihre Haut zu Markte tragen? Aber gleichzeitig bringen Schutztruppen Israel und Palästina natürlich wenig, wenn sie nicht bereit sind, den Frieden zu garantieren, der von Extremisten attackiert wird. Das Hauptproblem ist letztlich das fundamentale Misstrauen der Israelis und der Palästinenser, gegenüber den jeweils anderen. Keiner traut dem anderen, dass er ihn wirklich leben lassen will.

«Netanjahu hängt wie ein Mühlstein um den Hals Israels.»

Was wünschen Sie sich persönlich für «Den Tag danach»?

Bodenheimer: Ich wünsche mir, dass diese Regierung und Netanjahu von der politischen Bildfläche verschwindet. Netanjahu hängt wie ein Mühlstein um den Hals Israels. Ich fürchte vor allem um die innere Integrität des Landes.

Israels Premier Benjamin Netanjahu
Israels Premier Benjamin Netanjahu

Einerseits, dass die Kohäsion zwischen den einzelnen Bevölkerungsteilen zerbricht. Andererseits habe ich Sorge, dass sich Illiberalität breit macht, und wir kein wirklich tragfähiges demokratisches System haben, das diesen Namen auch verdient. In Israel war das Gros der Gesellschaft ja eigentlich immer um die Armee gruppiert, und die Politik hat gewissermassen das Ganze verwaltet.

Aber im letzten Jahr konnte man eine selbstbewusste Zivilgesellschaft sehen, anlässlich der Grossdemonstrationen gegen die Entmachtung des obersten Gerichts. Da ist etwas Neues herangewachsen. Und damit eine gewisse Hoffnung: Wenn diese zivilgesellschaftlichen Kräfte wachsen, dann sehe ich Hoffnung für das Land. Ich glaube, dass die Lösung der inneren Probleme auch zu der Lösung der regionalen Probleme beitragen würden. Seit dem 7. Oktober ist davon allerdings nicht mehr viel zu sehen. Die israelische Gesellschaft wirkt physisch und psychisch erschöpft, die Wut und Verzweiflung bündeln sich nicht in politischer Schlagkraft.

«In Israel wird die Not der Bevölkerung von Gaza entweder verdrängt oder der Hamas als dem Verursacher des Kriegs zur Last gelegt.»

Die Regierung Netanjahu hat eine Offensive auf Rafah angekündigt. Die Weltgemeinschaft versucht, diese mit Verweis auf die humanitäre Situation der Menschen zu verhindern. Wie wird das in Ihrem Umfeld wahrgenommen?

Bodenheimer: In Israel wird die Not der Bevölkerung von Gaza in der Regel entweder verdrängt oder der Hamas als dem Verursacher des Kriegs und primärem Profiteur der Hilfslieferungen zur Last gelegt. Das Ziel der israelischen Armeeführung – die, im Gegensatz zur Regierung, weiterhin ziemlich breites Vertrauen geniesst – ist es, die Hamas zu enthaupten. Ob das realistisch ist, weiss ich nicht.

Ihm will Israels Regierung um jeden Preis habhaft werden: Hamas-Anführer Yahya Sinwar (Archivbild 2021)
Ihm will Israels Regierung um jeden Preis habhaft werden: Hamas-Anführer Yahya Sinwar (Archivbild 2021)

Sicher ist: Damit der Krieg als Erfolg präsentiert werden kann, müssen zum einen die Geiseln befreit werden, und zum anderen will die Armee der Hamas-Führungs- und Symbolfigur Yahya Sinwar habhaft werden. Das Problem: Israels Sicherheit fusste auf einem Abschreckungskonzept, das am 7. Oktober zusammengebrochen ist. Da diese eigentlich überlebenswichtige Abschreckung weg ist, versucht man sie nun mit einer Entschlossenheit zum Bodigen der Hamas zu kompensieren, die immense Zerstörung verursacht.

Die Schweiz ist stolz auf ihre guten Dienste – Diplomatie statt Gewalt. Welche Rolle spielt die Schweiz in diesem Konflikt?

Bodenheimer:  Die guten Dienste im Sinne dessen, wie die Schweiz sie seit dem 20. Jahrhundert interpretiert, gibt es eigentlich in solchen Konflikten nicht mehr. Heute sind Akteure am Werk, die entweder kraft ihrer grossen Macht eine Rolle spielen, zum Beispiel die USA. Oder Akteure, die stark in der Region verankert sind. Dazu gehören kleine, aber reiche, Länder wie Katar oder regionale Grossplayer wie Saudi-Arabien oder Ägypten. Ohne diese Länder geht in der Region nichts. Die Schweiz, einfach nur weil sie neutral ist und was von Diplomatie versteht, ist im 21. Jahrhundert als Vermittlerin relativ irrelevant.

Was wünschen Sie sich ganz persönlich für die Schweiz?

Bodenheimer: Ich glaube, für die Schweiz ist es wichtig zu verstehen: Frieden ist ein riesiges Geschenk. Demokratie, selbst eine so ausgeklügelte und sicher gebaute wie in der Schweiz, ist nicht a priori gegeben. Das sollte man wertschätzen und wirklich daran arbeiten, dass das so bleiben kann. Morgens aufzustehen und zu wissen, es ist Frieden, das ist nicht gottgegeben.

*Alfred Bodenheimer (*1965) wuchs in Basel auf. Er ist seit 2003 Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte und leitet seit 2010 das Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel. Neben fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen ist er auch Autor mehrerer Kriminalromane. Seit 2012 lebt Bodenheimer teilweise in Israel. Er pendelt zwischen Galiläa und Basel.


Alfred Bodenheimer | © Annalena Müller
8. März 2024 | 12:00
Lesezeit: ca. 8 Min.
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