Der Kirchenhistoriker Albert Gasser.
Schweiz

Albert Gasser über Joseph Ratzinger: «Das grenzt an Literaturfälschung»

Der Kirchenhistoriker Albert Gasser (84) hätte sich im Streit mit Wolfgang Haas Rückhalt von Kardinal Joseph Ratzinger gewünscht. Auch als Papst Benedikt XVI. habe Ratzinger einige «bedenkliche» Entscheidungen getroffen. Besonders anstössig findet Gasser, dass Ratzinger Teile seines Frühwerks umgeschrieben habe: «Das grenzt an Literaturfälschung.»

Sarah Stutte

Wie beurteilen Sie die theologische Entwicklung von Joseph Ratzinger?

Albert Gasser*: Am Anfang war ich ziemlich begeistert von ihm und seinen Frühwerken über das Christentum. Er war eine Gestalt des Aufbruchs und ein Hoffnungsträger – zusammen mit Hans Küng. Doch die 68er-Bewegung hat ihm als Professor für katholische Theologie an der Universität Tübingen zugesetzt. Er wechselte dann in das beschauliche Regensburg.

Der Priester Albert Gasser in der Luzerner Hofkirche – zusammen mit seiner Schwester.
Der Priester Albert Gasser in der Luzerner Hofkirche – zusammen mit seiner Schwester.

Hat er seine früheren Ansichten jemals bereut?

Gasser: Ja, ich nehme es an. Ein Kollege hat mir berichtet, dass Joseph Ratzinger in einer späteren Ausgabe seiner früheren Werke gewisse Texte verändert habe im Sinne seines heutigen Denkens, ohne die Leserinnen und Leser darüber zu informieren. Das grenzt an Literaturfälschung, im Nachhinein die eigenen Bücher umzuschreiben, nur weil man über gewisse Dinge nun anders denkt. 

«Früher schrieb Ratzinger, dass Katholizität auch in der Fülle und Diversität bestehen würde.»

Fällt Ihnen ein Beispiel ein?

Gasser: Früher hat Ratzinger den Zentralismus der katholischen Kirche kritisiert und gesagt, dass Katholizität auch in der Fülle und Diversität bestehen würde. Das hat er dann zurückgenommen. Es ist legitim, dass sich ein Mensch wandelt. Aber man darf frühere Aussagen nicht so streichen, als hätte es sie nicht gegeben. 

Ein seltenes Bild aus der Konzilszeit: Joseph Ratzinger (ganz links) und Hans Küng (rechts).
Ein seltenes Bild aus der Konzilszeit: Joseph Ratzinger (ganz links) und Hans Küng (rechts).

Warum kam es nie zu einer Rehabilitation zwischen Hans Küng und Joseph Ratzinger?

Gasser: Früher waren sie Freunde und Kollegen. Später konnten Küng und Ratzinger nicht mehr zusammengebracht werden. Gerade was Hans Küng über die Unfehlbarkeit und das Papsttum sagte, passte nicht ins Papstbild der traditionellen Theologie und deshalb auch nicht in das Bild des Papstes Benedikt. 

«Angst ist keine Strategie.»

Warum hat sich Ratzinger verändert?

Gasser: Ich habe den Eindruck, dass sich in Ratzingers Denken und Handeln eine theologische Angst eingeschlichen hat. Doch Angst ist keine Strategie. Es geht nicht darum, dass sich alle am Schluss einig sind. Schliesslich besteht die Theologie im Dialog. 2005 kam es in der päpstlichen Sommerresidenz noch zu einer Aussprache von Küng und Ratzinger. Es ist anzunehmen, dass die strittigen Theologiefragen dabei aber ausgeklammert wurden.

Protest vor der Kathedrale in Chur gegen Bischof Wolfgang Haas am 17. Juni 1990.
Protest vor der Kathedrale in Chur gegen Bischof Wolfgang Haas am 17. Juni 1990.

Wie hat sich Joseph Ratzinger verhalten, als Wolfgang Haas 1988 zum Weihbischof in Chur mit Recht auf Nachfolge ernannt wurde?

Gasser: Sehr schlecht. Ich fand die Aussage von Ratzinger damals ungeheuerlich, die Causa Haas zur Gehorsams-Ideologie umzumünzen. Es hat mich masslos enttäuscht, dass er sagte, es sei eine Glaubensfrage, wie man damit umgehe. 

Der Protest wurde somit von Ratzinger als unglaubwürdig dargestellt. Ich war davon auch unmittelbar betroffen. Zwar hätte sich ein Bischof Haas als Grosskanzler der Theologischen Hochschule Chur nicht in meine Lehrtätigkeit einmischen können. Mir hat aber die Entwicklung zwischen Rom und Chur missfallen, so dass ich ins Pfarramt wechselte. 

Mariano Tschuor
Mariano Tschuor

Mariano Tschuor schreibt in seinem Buch «Gesegnet und verletzt», ausser dem Präfekten der Kongregation für die Bischöfe, Kardinal Gantin, hätte auch der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger, in der Causa Chur seine Finger im Spiel gehabt. Das habe ihm Nuntius Rauber so berichtet. Was wissen Sie darüber?

Gasser: Wie weit Ratzinger auf die Ernennung von Wolfgang Haas Einfluss gehabt hat, weiss ich nicht. Entscheidend war aber Bischof Johannes Vonderach, auf dessen ausdrückliche Bitte hin Haas von Johannes Paul II. zum Koadjutorbischof ernannt wurde. Rom pflegt niemals einem amtierenden Bischof einen Weihbischof aufzuzwingen. Das wurde damals auch vom Nuntius so bestätigt. 

Kardinal Karl-Josef Rauber im April 2021. Früher war er Nuntius in Bern.
Kardinal Karl-Josef Rauber im April 2021. Früher war er Nuntius in Bern.

Inwiefern waren Benedikts Entscheidungen als Papst von seiner theologischen Kehrtwende geprägt?

Gasser: Benedikt XVI. hat einige bedenkliche Entscheidungen getroffen. Zu nennen ist hier die Integration der Piusbruderschaft, die sich später teilte in eine weiterhin faktisch schismatische Anhängerschaft und in die abgespaltenen Petrusbrüder, die sich wieder mit Rom verbanden. Nicht gut war auch, dass er 2008 die Karfreitagsfürbitte für die Juden umformulierte. Und das kam ausgerechnet von einem deutschen Theologen! Da habe ich das Gespür für die eigene deutsche Geschichte vermisst. Positiv Stellung bezogen hat er dann allerdings mit seinem Besuch in Auschwitz 2006. 

Benedikt XVI. und sein Privatsekretär Georg Gänswein im Jahr 2009.
Benedikt XVI. und sein Privatsekretär Georg Gänswein im Jahr 2009.

Auch als emeritierter Papst meldete sich Benedikt zu Wort. Was halten Sie von seiner These aus dem Jahr 2019, wonach die 1968er-Bewegung den Missbrauch befördert habe?

Gasser: Das war Unsinn. Die Statistiken über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche gehen mindestens bis 1945 zurück. Da brauchte es keine 68er-Aufklärung, die sich angeblich negativ auf das Priestertum ausgewirkt hätte.

Als ehemaliger Gymnasiast in einem Benediktinerkollegium erfuhr ich, dass ein Klassenkamerad Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurde. Das war in den 1950er-Jahren. Der betroffene Lehrer an meiner Schule musste gehen und durfte erst wieder zurückkommen, nachdem sämtliche Schüler meines Jahrgangs die Matura gemacht hatten. So hat man diese Dinge damals gelöst.

Er stammte aus Glarus und lehrte in Bonn: Franz Böckle, römisch-katholischer Moraltheologe.
Er stammte aus Glarus und lehrte in Bonn: Franz Böckle, römisch-katholischer Moraltheologe.

Wie schätzen Sie die Freundschaft zwischen dem Glarner Moraltheologen Franz Böckle und Joseph Ratzinger ein?

Gasser: Franz Böckle hatte etwas Befreiendes für mich zu Beginn der 1960er-Jahre. Ich habe ihn als Lehrer und Mensch sehr geschätzt. Mit ihm konnte ich alles besprechen. Ich weiss aber nicht näher, wie sich die beiden entfremdet haben. 

Hans Urs von Balthasar
Hans Urs von Balthasar

Joseph Ratzinger war auch mit dem Luzerner Theologen Hans Urs von Balthasar bekannt…

Gasser: Das glaube ich gern. Hans Urs von Balthasar war eine Persönlichkeit von Ratzingers Gusto. Es spricht einiges dafür, dass Ratzinger bei der Ernennung von Hans Urs von Balthasar zum Kardinal durch Papst Johannes Paul II. federführend war. Doch bevor es dazu kam, starb Balthasar 1988 in Basel. Der Ex-Jesuit Hans Urs von Balthasar hat das Pontifikat Benedikts XVI. nicht mehr erlebt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass er ihn als Papst begrüsst hätte. 

* Albert Gasser (84) ist Priester des Bistums Chur und Kirchenhistoriker. Gasser war Schüler von Franz Böckle, der als Professor für Moraltheologie am Priesterseminar in St. Luzi lehrte (heute Theologische Hochschule Chur). Im Streit mit Bischof Wolfgang Haas gab Albert Gasser seine Professur auf.


Der Kirchenhistoriker Albert Gasser. | © Raphael Rauch
4. Januar 2023 | 13:02
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