Doris Reisinger spricht an der Universität Zürich.
Story der Woche

Abtreibung und Missbrauch: Doris Reisinger schaut in «tote Winkel» der Forschung

Die Expertin für spirituellen Missbrauch, Doris Reisinger, hat am Donnerstag an der Universität Zürich aufgezeigt: «Es gibt tote Winkel in der Missbrauchs-Forschung. Das sind Aspekte, die wir nicht sehen.» Sie spricht von Abtreibung zur Vertuschung von sexuellem Missbrauch durch Priester. Aber auch Ordensmänner, nichtgeweihte Täter oder Übergriffe auf Behinderte gehören dazu.

Charles Martig

Doris Reisinger sagt: «Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ein Bischof in der Öffentlichkeit lügt.» Und doch sei das in Deutschland geschehen. Die deutsche Theologin ist von Monika Dommann und Marietta Meier an die Universität Zürich eingeladen. Seit September führen die beiden Historikerinnen eine Ringvorlesung zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz durch. Doris Reisinger richtet ihren Blick auf die «Biases und toten Winkel». Es geht ihr dabei um Sichtweisen in der Forschung zu Missbrauch, die bewusst oder unbewusst eingeschränkt sind, wie sie in ihrem Referat sagt.

Monika Dommann, Doris Reisinger und Marietta Meier (v.l.).
Monika Dommann, Doris Reisinger und Marietta Meier (v.l.).

Abtreibungen sind nicht untersucht

Doris Reisinger zeigt zum Beispiel, dass Abtreibung in Missbrauchsstudien nicht untersucht werde. Abtreibung nach sexuellen Übergriffen durch Priester erscheine nur punktuell. Sie belegt das anhand des «Philadelphia Grand Jury Report» aus den USA oder anhand der MHG-Studie aus Deutschland. «Ich war schockiert, dass Priester, die Mädchen missbrauchen, diese auch zu einer Abtreibung zwingen können. Ich hatte einfach noch nicht darüber nachgedacht.»

Täter zwingen Opfer, Geburten oder Abtreibungen zu verschweigen

Im Zusammenhang mit Abtreibung spricht Reisinger von «reproduktiver Gewalt». Es geht dabei um die Ausnutzung von Verletzlichkeit. «Täter haben Opfer gezwungen, die Geburt zu verschweigen.» Zudem werde den Missbrauchsbetroffenen die Schuld für eine Abtreibung übertragen. Diese Form von Gewalt sei bisher nicht sichtbar in den Studien.

Doris Reisinger an der Universität Zürich.
Doris Reisinger an der Universität Zürich.

«Zölibat als ein direkter Anreiz für Abtreibung»

«Reproduktiver Missbrauch ist eine zusätzliche Dimension des Leids mit gravierenden Tatfolgen für Betroffene», betont Reisinger.  Die Forschung sollte sich diesem Thema zuwenden. «Reproduktiver Missbrauch ist eine eigene Form der Verantwortungslosigkeit und Gewalt auf Seiten der Täter.» Und sie betont, dass der Zölibat ein direkter Anreiz für eine Abtreibung sei.

Behinderte, Arme und Marginalisierte leiden besonders

Aber es gebe auch andere Aspekte, die nicht untersucht werden: «Im toten Winkel sind Behinderte oder andere Minderheiten: Betroffene in ‹Missionsgebieten›, zum Beispiel im globalen Süden in China oder Indien.» Doris Reisinger führt aus, dass an den Rand gedrängte Gruppen besonders unter Missbrauch leiden, aber nicht wahrgenommen werden. «Je marginalisierter eine Gruppe ist, desto rücksichtsloser wird mit ihnen umgegangen.»

Ringvorlesung mit Doris Reisinger an der Universität Zürich.
Ringvorlesung mit Doris Reisinger an der Universität Zürich.

Ordensmänner und nichtgeweihte Täter

Anerkennende Worte gibt es für die Schweizer Missbrauchs-Studie. Hier sind die Orden mit beteiligt. In anderen Ländern ist das nicht der Fall. In Deutschland haben die Diözesen die Studien in Auftrag gegeben. «Im toten Winkel sind auch Ordensmänner in Instituten mit eigenem Inkardinationsrecht, nichtgeweihte Täter oder Täterinnen und römische Behörden», erklärt Reisinger.

Warum gibt es «Missbrauchskrise» nur bei den Katholiken?

Besondere Aufmerksamkeit bekommt das Wort «Missbrauchskrise». Doris Reisinger fragt sich, warum ausgerechnet in der katholischen Kirche dieser Begriff geprägt wurde. «Das Wort Missbrauchskrise haben wir nirgendwo sonst.» Es gebe eine besondere Dynamik, die durch das Thema ausgelöst werde.

Doris Reisinger beobachtet einen Rückzug der Kirche in die Enge.
Doris Reisinger beobachtet einen Rückzug der Kirche in die Enge.

Entfremdung zwischen Staat und Kirche

«Es findet eine Entfremdung und ein Beziehungsabbruch zwischen Staat und Kirche statt.» Reisinger versucht das mit dem «Auseinanderdriften der normativen Ordnung» zu erklären. Es gehe dabei darum, dass sich westliche Gesellschaften in der Moderne stark verändert haben. Und die Kirche bleibe stehen. «Beim sexuellen Missbrauchsthema knallt es», bringt es Reisinger auf den Punkt.

Es geht dabei vor allem um die Frage der sexuellen Selbstbestimmung. «Kirchliche Institutionen können sexuellen Missbrauch nicht als die Verletzung eines Rechtes der betroffenen Person begreifen», meint Reisinger. Auch wenn sie sich noch so sehr anstrengen: Eine Entfremdung zwischen Kirche und Staat sei deutlich sichtbar.

Sorge um Rückzug der Kirche

Aber Doris Reisinger bleibt bescheiden: «Wir sind in diesen Fragestellungen erst am Anfang. Es braucht weitere Forschung.» Sie betont am Donnerstag in Zürich, dass sie einen Rückzug der Kirche beobachtet: «In der Kirche gibt es einen Rückzug in die Enge. Über solche Rückzugsbewegungen mache ich mir Sorgen, gerade wenn es um Missbrauch geht.»

*Doris Reisinger ist Theologin, Philosophin und Autorin. Die Deutsche war Mitglied der Geistlichen Familie «Das Werk» und ist selbst betroffen von sexuellem und geistlichem Missbrauch.

Die Ringvorlesung der Universität Zürich «Sexueller Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche. Eine Zwischenbilanz» findet wöchentlich am Donnerstagabend um 16.15 Uhr statt, noch bis am 21. Dezember 2023. An der nächsten Veranstaltung vom 19. Oktober spricht Daniel Bogner zum Thema: Sexualität und Männlichkeit in der katholischen Kirche.


Doris Reisinger spricht an der Universität Zürich. | © Charles Martig
13. Oktober 2023 | 14:20
Lesezeit: ca. 3 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!