Kollektiv das Sterben üben: Massensimulation in Südkorea
Schweiz

Ab in den Sarg und danach zurück ins glückliche zweite Leben? «Man kann den Tod nicht simulieren»

Ein Testament schreiben und sich dann freiwillig und lebendig für kurze Zeit in einen geschlossenen Sarg legen – das alles im Kerzenschein: Derartige kommerzielle Angebote in Südkorea sollen Menschen ein neues und glückliches Leben bescheren. Antonio Lee, katholischer Priester im zürcherischen Bonstetten und gebürtiger Südkoreaner, bezweifelt das.

«Happy Life» – so heisst die Agentur, die Eric Kherson in Seoul betritt. Er ist Held im neuen Roman des französischen Schriftstellers David Foenkinos. In dem Buch, betitelt «La Vie heureuse» (»Das glückliche Leben»), erlebt Eric auf einer Geschäftsreise in der südkoreanischen Hauptstadt, wie er durch den eigenen simulierten Tod plötzlich wieder mit neuen Lebenskräften aus einem dunklen Sarg entsteigt.

Todesdatum, Foto und Epitaph

Besagte Agentur bietet diese Möglichkeit an. Für Gruppen und Einzelpersonen. Bevor Eric in den Sarg steigt, hat er noch eine persönliche Grabinschrift entworfen, in der er sein Leben resümiert. Sein Todesdatum und ein persönliches Foto plus ein weisses Sterbegewand inszenieren zudem täuschend echt die eigene Beerdigung.

Noch einmal den letzten Willen durchlesen, bevor man sich für kurze Zeit in den Sarg legt, um den eigenen Tod zu simulieren: eine südkoreanische Studentin im Hyowon Healing Center in Seoul.
Noch einmal den letzten Willen durchlesen, bevor man sich für kurze Zeit in den Sarg legt, um den eigenen Tod zu simulieren: eine südkoreanische Studentin im Hyowon Healing Center in Seoul.

«Er lag da im Sarg, unbeweglich, im Dunkeln und in der Stille, und es kam ihm wie eine unendliche Liebkosung vor», gibt Eric seine Gefühle wieder. «Indem er seine Sinne den Tod erfahren liess, empfand er ein Glück, das sich fast wie ein Genuss anfühlte.»

Voilà! Doch das ist nicht nur Romanfiktion. Bereits Tausende von Südkoreanerinnen und Südkoreanern haben ganz real an Massenbegräbnissen für Lebende teilgenommen, dem neuesten Wohlfühltrend des Landes.

Der simulierte Tod soll das Leben verbessern

Bevor sie sich ein Leichentuch überzogen und es sich in einem Sarg gemütlich machten, schrieben die Teilnehmer ein Testament. Dieses kuriose Event soll das Leben durch die Simulation des Todes verbessern.

Lebendig den eigenen Tod simulieren - in Südkorea ein Wohlfühltrend und Massnahme gegen hohe Suizidrate
Lebendig den eigenen Tod simulieren - in Südkorea ein Wohlfühltrend und Massnahme gegen hohe Suizidrate

Das Angebot des Hyowon Healing Centre in Seoul interessiert Menschen vom Teenageralter bis zur Rente. Viele empfinden es als «kathartisch», es helfe, eine neue Perspektive auf das Leben zu gewinnen. Bei manchen soll diese «Therapie» sogar Suizidgedanken vertreiben.

Hohe Selbstmordrate

Zur Einordnung: Die Selbstmordrate von Südkorea mit 24,2 Suiziden pro 100’000 Einwohner im Jahr 2020 lag mehr als doppelt so hoch wie der OECD-Durchschnitt mit 11,53 Suiziden. Traurig: Südkorea ist zusammen mit Litauen weltweit Suizid-Spitzenreiter.

«Man kann den Tod nicht simulieren oder trainieren», ist Antonio Lee indes überzeugt. Der 47-Jährige arbeitet seit 2011 als katholischer Pfarrer im zürcherischen Bonstetten. «In der Tat gibt es zwar seit fünf sechs Jahren ein solches Ritual in Südkorea, das zurzeit praktiziert wird, aber ich nehme es persönlich nicht ernst», erklärt er gegenüber kath.ch.

Pfarrer Antonio Lee aus Bonstetten
Pfarrer Antonio Lee aus Bonstetten

«Normal denkende und sterbende Koreaner würden wohl darüber lachen, wenn jemand eine derartige Perfomance mitmacht.»

Pfarrer Antonio Lee

Aus seinem Bekanntenkreis sei ihm auch niemand bekannt, der so ein Programm in Anspruch genommen habe. Lee: «Normal denkende und sterbende Koreaner würden wohl darüber lachen, wenn jemand eine derartige Perfomance mitmacht. Aber dieser Trend zeigt schon die Dynamik des Landes Südkorea. Dieses Angebot ist wohl eher eine kapitalistische Aktion, ein Event halt.»

Harte Leistungsgesellschaft

Südkorea sei einerseits eine sehr moderne, andererseits eine sehr traditionelle Gesellschaft, so Lee, die ständig auf der Suche nach Neuigkeiten sei. Es gebe alle möglichen Religionen, Experimente, Neuigkeiten wie Filme und Musik, obwohl das Land aus seiner Sicht eigentlich sehr konservativ geprägt ist.

Die katholische Kathedrale in Seoul
Die katholische Kathedrale in Seoul

«Die hohe Suizidrate in Südkorea erklärt sich durch die konfuzianisch inspirierte Leistungsgesellschaft, in der es nur Gewinner und Verlierer gibt. Und wer zu den Verlierern zählt, für den ist das Dasein sehr hart», beschreibt der Bonstetter Pfarrer die Situation in seiner Heimat.

Dabei hat sich das Christentum in Südkorea weit ausgebreitet. Von den gut 50 Millionen Einwohnenden sind rund 30 Prozent Christen. Die meisten sind evangelisch. Etwa 30 Prozent der Südkoreaner gehören keiner Religion an. Viele sind Buddhisten. Hinzu kommen kleine Gruppen anderer Religionen.

«Solche Gefühle halten nicht lange an»

Dass die beschriebenen Todessimulationen den Menschen längerfristig eine Art zweite Chance und ein glückliches Leben zu bescheren vermag, bezweifelt Antonio Lee. «Man bekommt vielleicht ein anderes Gefühl und einen anderen Blick auf sein eigenes Leben als vorher. Aber solche Gefühle halten sicher nicht lange an.»

Seit 2011 katholischer Pfarrer in der Schweiz: der aus Südkorea stammende Antonio Lee
Seit 2011 katholischer Pfarrer in der Schweiz: der aus Südkorea stammende Antonio Lee

Grundsätzlich habe man in Südkorea eine andere Wahrnehmung gegenüber dem Tod. «Wir Südkoreaner verhalten uns traditionell sehr ernst gegenüber dem Tod. Wenn jemand stirbt, befinden sich Familienmitglieder, Freunde und Bekannten dauerhaft in tiefer Trauer», beschreibt der katholische Pfarrer, der in Seoul aufgewachsen ist.

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In der Schweiz werde der Tod dagegen oft verdrängt, empfindet er. «Ich habe schon erlebt, dass Kinder einer Familie in die Ferien gefahren sind, obwohl der Vater gestorben war – das wäre in Südkorea unvorstellbar.»


Kollektiv das Sterben üben: Massensimulation in Südkorea | © Keystone
23. April 2024 | 17:00
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