Kultureller Austausch statt Aneignung

Mittel gegen Ausgrenzung und Hass

Der Begriff der «kulturellen Aneignung» schlägt zurzeit hohe Wellen. Für die Ethnologie bedeutet er den einfachen Verweis darauf, dass nicht dauernd alles neu erfunden wird. Sondern es wird auf das zurückgegriffen, was vorliegt. Wenn Konzerte abgesagt werden, weil weisse Musiker Rastalocken tragen und sich angeblich der «kulturellen Aneignung» schuldig machen, sei dies nicht harmlos, warnt Alfred Bodenheimer, ein jüdischer Gelehrter. Unter dem Deckmantel des Antirassismus feiere da ein neuer Rassismus Urständ. Anlass genug, sich auch christlicherseits zu besinnen.

Susanne Schröter, Ethnologin an der Universität Frankfurt, weist in ihrem soeben erschienenen  Buch «Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmassung und Selbsthass» darauf hin, dass der Begriff der «kulturellen Aneignung» aus wissenschaftlicher Sicht auf etwas ganz Simples verweise: «Menschen erfinden die Gegenstände und Techniken, die sie nutzen, die Sitten und Bräuche, die sie praktizieren, oder die Glaubensvorstellungen, mit denen sie sich die Welt erklären, nicht permanent neu, sondern sie greifen auf das zurück, was sie vorfinden.» Diese Aneignung geschehe sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Kulturelle, damit auch religiöse Aneignungen ermöglichten die Entwicklung menschlicher Kultur, indem Erworbenes über die eigene Gruppe hinaus weitergegeben werde. Eines sei gewiss, so Schröter: «Kultur ist fluide. Sie ist immer in Bewegung und kann – über einen längeren Zeitraum betrachtet – nur in seltenen Fällen einem geografischen Raum oder einem bestimmten Kollektiv zugeordnet werden.» So lassen sich verfilzte Haare in vielen Teilen der Erde nachweisen. Indische Gurus etwa tragen sie, in afrikanischen Ländern hingegen sind sie nur selten anzutreffen. 

Haltung der Akzeptanz
Schröter ortet in der freien kulturellen Aneignung aber auch ein Mittel gegen Ausgrenzung, Hass und letztlich Krieg: «Sie dient nämlich ganz massgeblich der friedfertigen Verständigung unterschiedlicher Gruppen, beziehungsweise ist bereits Ausdruck einer Haltung, die auf Kontakt und Akzeptanz zielt.» Erst so würden vorurteilsfreie Beziehungen möglich. Erst so, wenn man neugierig aufeinander zugehe, werde man immunisiert gegen feindselige Abgrenzungen. Wer sich um Ökumene bemüht, aber auch um interreligiöse Verständigung, kann davon ein Liedchen singen. 

Begriffliche Verrenkungen
Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel. Kürzlich schrieb er in der NZZ, der wahre Skandal bei der Debatte um die «kulturelle Aneignung» sei das «völkische Kulturverständnis», das dahinterstecke. – Eine Warnung, die es in sich hat. – Die bisher vorgebrachten Argumente seien alle zu defensiv. Etwa, wenn zwar richtig bemerkt worden sei, «dass die Musikkultur der Moderne ohne kulturelle Aneignung gar nicht existieren würde». Wer Angehörigen bestimmter Kulturen, Hautfarben oder Ethnien das Recht abspreche, eine Vorliebe für bestimmte Kleider, Musikstile oder Frisuren zu pflegen, die ihnen «fremd» seien, lege eine «völkische» Haltung an den Tag: «Und man kennt sie aus der Geschichte.» – Ein Paukenschlag von Bodenheimer. Er erinnert daran, dass nach 1933 jüdische Künstler*innen ausgegrenzt worden waren. Man sprach ihnen die Befugnis ab, sich an die Interpretation von Werken «arischer» Komponisten oder Dichter zu wagen. Wie es dann weitergegangen ist Richtung Massenmord, ist hinlänglich bekannt. Und was taten die Christen? Mehrheitlich schwiegen sie. Der jahrhundertealte christliche Antijudaismus tat seine Wirkung. Und heute? Damals habe man sich noch nicht «mit begrifflichen Verrenkungen wie <kulturelle Aneignung>» herumgeschlagen, sondern offen rassistisch argumentiert respektive gehetzt, sagt Bodenheimer. 

UNESCO-Übereinkommen
Seit 2007 ist das Übereinkommen der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) «über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen» in Kraft. Eines seiner Ziele lautet: «Einen ausgewogenen Austausch an kulturellen Gütern und Dienstleistungen erreichen und die Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden steigern.» Wären wir nicht gut beraten, dafür zu sorgen, dass das Anliegen der UNESCO-Erklärung umgesetzt wird? Wäre es nicht besser, wieder Brücken zu schlagen, anstatt sie abzureissen? Wir Christen hätten dabei viel beizutragen. 

Thomas Schaffner/Red., 19.10.2022

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19. Oktober 2022 | 11:12