Wandbild in Chile, das an die Conquista durch die Spanier erinnert

Kriege konfrontieren mit dem Bösen

Das Böse zeigt in Kriegstagen seine eigene Fratze. Unmissverständlich und brutal in seinen leidvollen Wirkungen. Da rückt die Frage nach der Begründung von Kriegen ebenso ins Zentrum wie nach der Täuschung durch einen genius malignus (bösen Geist), von der der Philosoph Descartes sprach. Immer wenn der Weltfriede an seidenem Faden hängt, wehren sich Menschen gegenüber der Unvernunft politischen Handelns, die sich in totalitärer Manier ausnimmt, Kriegsmaschinerien in Bewegung zu setzen. Was ist es um diesen Virus der Gewalt und des Bösen, der sich in Herzen von Diktaturen breitmacht?

Vom Bösen eingenommenes Herz

Viele Male in der Geschichte sahen sich Völker in Kriege gezogen, angezettelt durch Parolen voller Illusionen. Lügen folgten auf Lügen. Unterschwelliger Hass kleidete sich in imperiale Versprechungen eines ewigen Friedens. Wie bei allen Potentaten der Geschichte blicken wir in diesen Tagen erneut in ein vom Bösen eingenommenes Herz, dem ein Raubtier entspringt. Dafür fand 1944 Ricarda Huch (1864-1947) in einem ihrer letzten Gedichte verstörende und unmissverständliche Worte:

Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest
Sein Geliebtes fest in den Fängen,
Aber Gehaßtes gibt es auch,
Das er niemals entläßt
Bis zum letzten Hauch,
Was immer die Jahre verhängen.
Es gibt Namen, die beflecken
Die Lippen, die sie nennen,
Die Erde mag sie nicht decken,
Die Flamme mag sie nicht brennen.
Der Engel, gesandt, den Verbrecher
Mit der Gnade von Gott zu betauen,
Wendet sich ab voll Grauen
Und wird zum zischenden Rächer.
Und hätte Gott selbst so viel Huld,
Zu waschen die blutrote Schuld,
Bis der Schandfleck verblaßte –
Mein Herz wird hassen, was es haßte,
Mein Herz hält fest seine Beute,
Daß keiner dran künstle und deute,
Daß kein Lügner schminke das Böse,
Verfluchtes vom Fluche löse.

Dem Bösen ist kein Kraut gewachsen

Es bleibt rätselhaft und wuchert als Unkraut im Getriebe der Welt. Dieses mitsamt dem guten Gewächs ausreissen, verbietet der biblische Tipp im Gleichnis Jesu vom Unkraut (Mt 13, 24-30). Entblösst zeigt sich Böses unter diktatorischer Herrschaft, die im Strudel der Zensur gefangen die Tatsachen verdreht und selbst zur Mördergrube wird. Selbstkritisch und erhellend, wenn auch fast schon lieblich meinte vor wenigen Jahren Thomas Hürlimann: «Ich denke schon, dass das Dunkle, Böse und Abgründige im Menschen stärker sein kann als das Helle. Wenn ich von Herzen hasste, war dieses Gefühl meist intensiver, als wenn ich von Herzen liebte.» Die Einsicht des Schriftstellers mahnt selbstkritisch dazu, sich dem eigenen Gefühlshaushalt nicht zu entziehen.

Krieg als Verirrung ersten Ranges

Der eigenen Befindlichkeit gegenüber kritisch sein findet Parallelen in der Geschichte. Die Weltpolitik schwankt zwischen Überheblichkeit der einen Nation gegenüber der anderen und der Suche nach Frieden und Gerechtigkeit. Ein Blick zurück zeigt, vergangen ist die Zeit als 1971 Willy Brandt eine neue Realpolitik anmahnte, indem er den «vielen Verirrungen unter dem Feldzeichen des bellum justum, des ‹gerechten Krieges’» seine Definition gegenüberstellte: «Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio». Dagegen er eine «Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche» als «noch nicht allgemeine Einsicht» begreife. Zu wenige haben dieser Einsicht konkrete Taten folgen lassen. Ist darum Krieg nicht eine Verirrung ersten Ranges, erwachsen aus fataler Entgleisung der Vernunft?Die damals erwünschte Friedenspolitik bekam wenig später ihre Risse. So zeigten etwa die Kriege im Irak, in Afghanistan und Syrien, wie die darin verwickelten Armeen in bösartiger Verwirrung das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerungen mit Füssen treten und irregeleitete Machtpolitik den Ausstieg aus der Gewaltspirale verunmöglicht.

Kritik am Christentum

Da hier aus christlicher Sicht argumentiert wird, muss die Rolle des Christentums im Umgang mit den Kräften des Bösen kritisch in den Blick genommen werden. Es war Albert Görres (1918-1996), der als Psychotherapeut dem Christentum nahestand, der auf den weiten Motivhorizont des Bösen blickte und sich in seltener Klarheit mit der Kritik am Christentum auseinandersetze. Die Welt empfinde die Christenheit, besonders die in Kirchen verfasste, etwa so wie Jesus die Pharisäer erlebt habe: «… professionell Fromme, die viel von Gott und seinen Gesetzen reden, aber wenig Herzenswärme ausstrahlen, weder Güte noch Freude. Das seelische Klima der Christenheit ist oft unwirtlich, kalt wie ein schlechtes Caritasheim.» Das Ärgernis und die Lächerlichkeit im frommen Milieu sei «wegen des hohen Anspruchs greller, das Böse durch seine heuchlerische Verleugnung noch böser, das Neurotische durch die Last der Schuldgefühle noch neurotischer». Darum konnte Görres von ekklesiogenen Neurosen erzählen als einer «grossen Gruppe unter der noch weit grösseren Zahl der ›Evangeliumsgeschädigten’». Die provozierende Seite an der Botschaft Jesu, die etwa mit dem radikalen Aggressionsverbot (Mt 5,22) oder dem masslosen Aufruf so vollkommen zu sein, «wie euer Vater im Himmel», vergifte «das Leben mit beständigen Gefühlen des Versagens und des Schuldigbleibens». Sind so gesehen die Taten von Kriegsdespoten, die ihr Verständnis von Religion in nationalistischer Ausprägung für ihre Zwecke instrumentalisieren, nicht auch getrieben von Gefühlen des Versagens, ihrem Unvermögen, ihre eigene (heilige) Nation wieder zu errichten? Wäre ihnen gedient, sich in eine Gesprächstherapie zu begeben und alles, was geschehen ist, zu erinnern – es vor dem geistigen Auge wiederzukäuen und durchzuarbeiten? Alles fromme Wünsche, wo in den Augen des Therapeuten Charakterfehler aufzulockern «Jahre der Seelenarbeit, des Einfühlens in die Gesinnung des und der Heiligen», mit einem Wort «Meditation» erforderlich wären?

Mit eigenem Dilemma in bester Gesellschaft

Nun lag dem Leben Jesu und seinem Wirken eine freiheitliche Dynamik zugrunde. Wo immer er in seinen Zeichen nicht verstanden wurde oder ihm Widerstand erwuchs, wurde seine freimütige Hingabe an das Reich Gottes geprüft. Am Beispiel seines Lebens wurde das Rätsel des Bösen als «mysterium iniquitatis» (2 Thess 2,7) sichtbar. Anders und mit Worten von Rüdiger Safranski gesagt, geht es beim Bösen um das Drama der Freiheit.. Klassisch hat dies Paulus im Römerbrief 7, 19 auf den Punkt gebracht. Man will das Gute tun, treibt dennoch das Böse voran, was man nicht will. So finden sich alle Menschen mit dem eigenen Dilemma in bester Gesellschaft. Oder mit Hanna Arendt: Man wird vom Bösen verführt, das im Gewand des Guten daherkommt. Durch die ganze Geschichte hindurch lässt sich das Schwarz-Peter-Spiel erkennen, vom schrägen Blick des Kain auf seinen Bruder Abel, zum Erstgeburtsrecht, das sich der starrköpfige Jakob von Esau erschleicht, bis zum bösen Spielball präsidialer Twitter-Manie, die alle schachmatt zu setzen scheint.

Christus als Hoffnungsträger

Es bleibt in Kriegszeiten buchstäblich kein Stein auf dem anderen. Trauer und Wut erfüllen jene, die solidarisch mit den Opfern sind. Ihren Hinterbliebenen wird die Kraft zur Versöhnung lange verschüttet bleiben. Es sind die Psychotraumatologie und der Blick auf die letzten Dinge, die dann – meist viel später – mit dem eigenen Leben konfrontieren helfen. Dabei macht es für Opfer und Täter einen Unterschied, wie sie ihre Leiden od. Taten erfahren bzw. ausüben und ihnen im geglaubten Jenseits nochmals gegenüberstehen. Opfer, die eine Tat oder einen Krieg überleben, wie auch traumatisierte Angehörige möchten, dass ihr erfahrenes Unheil noch während des Lebens entlastend gestillt wird. Doch sie geraten mit ihrer Hoffnung auf Versöhnung an Grenzen. Theologie wie Psychologie halten fest, dass eine Heilung «immer als etwas Unverfügbares gedacht», «letztlich nur erhofft werden» kann, fasst Florian Kleeberg zusammen. Erst die Vorstellung eines Endgerichts öffne den Blick auf Jesus Christus als «Hoffnungsträger für die Rettung aller Menschen». Eine letzte Einschränkung gilt es mit Kleeberg zu beachten: Es muss einer universalen Hoffnung auf Allversöhnung auch das Reden von der «Hölle als Zustand der selbstgewählten Gottesferne» plausibel bleiben. Das Dilemma aller am Gerichtsgeschehen Beteiligten bleibt wie ein Stachel im Fleisch der Allversöhnungshoffnung – die Ohnmacht der Opfer und der Traumatisierten. Opfer und Täter bleiben «vom Leben gezeichnete Subjekte». Gott steht durch Jesus Christus gegenüber seinen Geschöpfen als die in grösster Freiheit handelnde Schöpferkraft, die beiden Seiten gerecht werden möge. Dies ist die vom christlichen Glauben vertretene Hoffnung. Und seitens koranischer Überlieferung sei diesen Reflexionen über das Böse Peter Handkes Notiz an den Schluss gestellt: «’Der Prophet sagte: ›Auch des Bösen sich enthalten, ist ein Almosen’ (Koranische Überlieferung)».

CH-6005 St. Niklausen / Luzern
Mitte September 2022
Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser

Verwendete Literatur

Albert Görres: Das Böse und die Bewältigung des Bösen in Psychotherapie und Christentum, in: Albert Görres / Karl Rahner: Das Böse. Wege zu seiner Bewältigung in Psychotherapie und Christentum, Freiburg 1982

Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. München 1997

Hanna Arendt: Hinweis bei Mikael Krogerus: Ist der Mensch gut oder böse? Ein Treffen mit dem niederländischen Starhistoriker Rutger Bregman. DAS MAGAZIN 10/2020, 14-17, 17

Florian Kleeberg: Bleibend unversöhnt – universal erlöst? Eine Relecture von römisch-katholischen Konzepten zur Frage der Allversöhnung im Gespräch mit psychotraumatologischen Ansätzen. Münster 2016, 93-103

Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015, Salzburg/Wien 2016, 293

Wandbild in Chile, das an die Conquista durch die Spanier erinnert | © Stephan Schmid-Keiser
Gastbeitrag
25. Januar 2023 | 14:55