Jerusalem – Heiligkeit jenseits von Machtbehauptung

Der Schweizer Jesuit Christian M. Rutishauser beleuchtet die Entscheidung Trumps, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, vom Ethos des Heiligen als hekdesch her, als etwas, was nicht besessen werden kann.

Prof. Uriel Simon von der Bar Ilan Universität in Tel Aviv hatte vor wenigen Jahren eine Pilgerkonferenz in Jerusalem, wie folgt, eröffnet: «Die Hindus haben ihren eigenen Pilgerort Vārānasi, die Christen haben Rom und Santiago für sich, die Muslime hüten Mekka für ihren Hadsch wie den Augapfel, nur wir Juden müssen unsere heiligste Stadt mit anderen Religionen teilen.» Die Konferenz reflektierte, wie die Pilger*innen in Jerusalem nicht nur ihren eigenen Glauben vertiefen, sondern zugleich auch fähig werden, den Gläubigen anderer religiösen Traditionen konstruktiv zu begegnen. Allen Teilnehmenden wurde rasch bewusst, dass ein Reden davon, dass Jerusalem Juden und Jüdinnen, Christ*innen und Muslim*innen heilig ist, mehr verdeckt als hilfreich ist. Es verdeckt die Komplexität der heiligen Stadt. Es nimmt weder die verschiedenen Konzepte von Heiligkeit wahr, noch berücksichtigt es, wie unterschiedlich Jerusalem je in das Gesamtglaubensverständnis von Judentum, Christentum und Islam eingeordnet ist.

Das Heilige ist besitzergreifendem Handeln entzogen.

Der Grundbedeutung des Heiligen konnten aber alle zustimmen: Das Heilige stellt im Gegensatz zum Profanen denjenigen Bereich dar, der dem Menschen und seinem besitzergreifenden Handeln entzogen ist. Durch das Heilige wird dem Menschen eine Grenze gesetzt. Er kann sich nicht allem bemächtigen. Mit einer solchen Grenzziehung eröffnet die Genesis den Dialog zwischen Gott und Mensch, wenn Adam und Eva von allen Bäumen essen dürfen, ausser von einem nicht. Heilige Tage, wie sie unsere Gesellschaft gerade begeht, sollten dem menschlichen Eigennutz entzogen sein, so dass Raum für die Gesetzmäßigkeit Gottes und seiner Gerechtigkeit entsteht.

So dürfte weder die «Heilige Nacht» von Weihnachten wirtschaftlich ausgebeutet, noch das «Fest der Heiligen Familie» für eine Familienideologie missbraucht werden. Doch über solche Profanierung und Grenzüberschreitung ärgert sich in unserer Gesellschaft kaum jemand. An die Maßlosigkeit westlicher Zivilisation und ihren Verlust des Heiligen haben sich die meisten gewöhnt. Da ist es einfacher, sich über einen Präsidenten wie Donald Trump zu empören, der offensichtlich aus innenpolitischen Machtinteressen Jerusalem zur Hauptstadt von Israel erklärt und damit weder den Israelinnen und Israelis noch den Palästinenser*innen einen Dienst erweist. Ob ihm die evangelikalen Wähler*innenstimmen und jene der ultra-orthodoxen, nationalreligiösen Juden und Jüdinnen helfen, wird man erst später sehen.

hekdesch – Dinge, die nicht besessen werden können

In der Debatte um Jerusalem als Hauptstadt des Staates Israel, hat nun der in Toronto lebende Rabbiner David Meyer das Argument jüdischer Selbstbeschränkung in einem Beitrag in «Le Monde» ins Spiel gebracht: Nach dem jüdischen Religionsgesetz werden Dinge, die keine/n Besitzer*in haben, als hefker bezeichnet, Dinge aber, die nicht besessen werden können, weil sie für einen heiligen Dienst ausgesondert sind, als hekdesh. Alles würde dafür sprechen, Jerusalem jüdisch als hekdesh zu verstehen und die Stadt nicht politisch zu vereinnahmen! Die Heiligkeit Jerusalems steht im Dienst nicht nur des jüdischen Volkes, sondern auch der gesamten Menschheit. Selbstverständlich ist der politische Zionismus mit dem Staat Israel ein konstitutiver Bestandteil des heutigen Judentums, den es nicht zu bestreiten gilt. Doch macht er nicht die ganze Wirklichkeit jüdischer Gegenwartsgeschichte aus.

Gerade Kulturzionist*innen wie Simon Dubnow oder Martin Buber haben Jerusalem zuerst als ein kulturelles und geistig-geistliches Zentrum des Judentums gesehen. Zion als Ausdruck einer Sprache und Literatur, einer Weltanschauung und Religion, einer nach jüdischen Werten geformten Wissenschaft, Wirtschaft und Politik stand dem Kulturzionismus vor Augen. Er ist aus dem traditionellen rabbinischen Denken mit seinem Sinn für Menschlichkeit, Humanismus und Gerechtigkeit herausgewachsen. Er atmet den Geist der Sensibilität für die/den Andere/n. Es bleibt dem Judentum zu wünschen, dass es neben dem politischen Zionismus, der auf Landbesitz und politische Macht konzentriert ist, die kulturzionistische Dimension nicht verliert und die geistige Tradition der Diaspora nicht vergisst. Auch hier ist Erinnerung Anfang der Erlösung.

Seid heilig in eurem Tun, denn ich bin der Heilige.

Dass das Judentum als Volk, Kultur und Religion wie keine andere Tradition ihren Mittelpunkt in Jerusalem hat, kann nicht bestritten werden. Den Christ*innen ruft Paulus im Römerbrief in Erinnerung, dass sie auf diese Tradition aufgepfropft sind wie wilde Sprösslinge auf einen Ölbaum. Was dies für das Judentum wiederum bedeutet, müsste erst noch bedacht werden. Aus der Heiligkeit Jerusalems religionspolitisch aber Souveränität abzuleiten, ist nur dann legitim, wenn sie sich am Ethos des Heiligkeitsgesetzes ausrichtet. Ansonsten schließen sich Heiligkeit und Souveränität gegenseitig aus, weil es in der Souveränität um Selbstbehauptung geht. Das Heiligkeitsgesetz der Tora definiert ja das Heilige gerade nicht mehr nur als Erfahrung des tremendum et faszinosum, sondern als ein Handeln, als Imitatio Dei: «Seid heilig in eurem Tun, denn ich bin der Heilige», klingt wie ein Refrain durch die rabbinische Ethik. Ohne diese ethische Rückbindung der Landverheissung wird die politische Frage nach der Souveränität zu einem Götzen bzw. Fetisch, wie in militanten Siedler*innenkreisen heute klar sichtbar ist. Selbstverständlich steht auch der Ruf «Tot den Juden!» aus muslimisch-arabischen Kreisen angesichts der Ankündigung, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, jedem Ethos der Heiligkeit entgegen.

Autoritäten und Strukturen, die vom Geist der Heiligkeit getragen sind

Wird rein säkular-politisch und völkerrechtlich argumentiert, so hat nicht nur Israel das Recht, Westjerusalem als seine Hauptstadt zu erklären, sondern die Botschaften aller Länder hätten ihre Vertretungen schon lange nach Westjerusalem verlegen können. Doch so einfach steht es um die vereinte und doch getrennte Stadt nicht, in der Westjerusalem nicht auf den international anerkannten Grenzen Platz hat und Großjerusalem für Israel beansprucht. Umkämpft wie die Stadt ist, muss es aber für jeden vernünftigen Menschen eine Selbstverständlichkeit sein, dass sie Jüdinnen und Juden, Christ*innen und Muslim*innen offensteht. Die verschiedenen Gläubigen müssen dabei nicht nur ihre heiligen Stätten besuchen können. Auch ihre karitativen Einrichtungen, Spitäler, Schulen etc. müssen sich entfalten dürfen. Dass die Stadt drei Religionen und auch zwei Völkern, Palästinenser*innen, Israelinnen und Israelis Lebensraum zu geben hat, stellt eine Forderung dar, hinter die nicht zurückgetreten werden kann. Die Patriarchen und weitere christliche Führer der Stadt haben dies nochmals eindringlich unterstrichen.

Nach 1967 hat der Staat Israel begonnen, dazu Rahmenbedingungen zu schaffen. Doch angesichts der politisch angespannten Situation im Alltag und der verschiedenen ideologischen und theologischen Ansprüche ist die Stadt von einem friedlichen, gerechten und freien Zusammenleben ihrer Bewohner*innen immer noch entfernt. Aus der Perspektive der Menschenrechte wie auch aus der Perspektive des Ethos der Heiligkeit ist dies aber das entscheidende Kriterium. Eine Symbolpolitik muss dahinter zurücktreten. Ob ein palästinensischer Staat diesen Kriterien gewachsen wäre, darf auch bezweifelt werden. Jerusalem aber unter eine internationale Hoheit zu stellen, wie dies der Vatikan in der laufenden Debatte nochmals getan hat, bleibt eine Utopie. Der Vatikan weiß selbst darum. Es gibt keine internationale Instanz, die diesen Status von Jerusalem garantieren könnte. Wünschenswert wäre er, insofern man einer neutralen Instanz zutraut, den drei Religionsgemeinschaften und den beiden Völkern gerecht zu werden.

Als Ausdruck eines multireligiösen Ansatzes, der allen Beteiligten gerecht werden will, taugt er nicht. Er stellt nur den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, berücksichtigt die unterschiedlichen Verbindungen zu Jerusalem aber nicht. Gefragt wäre ein Miteinander von politischen und religiösen Autoritäten und Strukturen, die vom Geist der Heiligkeit getragen sind, Jerusalem nicht nur für sich, sondern auch für die/den Andere/n dienstbar zu machen. Dazu braucht es die Fähigkeit der Selbstbeschränkung.

Weiterführende Literatur von Christian Rutishauser:

«Zu Fuss nach Jerusalem» (Patmos-Verlag 2013); «Ein Jude und ein Jesuit im Gespräch über Religion in turbulenter Zeit»  (Grünewald-Verlag 2015); «Mystische Wege. Christlich-Integral-Interreligiös» (Vier-Türme-Verlag 2016)

Text: Dr. Christian M. Rutishauser SJ, Provinzial der Schweizer Jesuiten, Lehraufträge für Jüdische Religion in München, Rom, Fribourg, Mitglied der Jüdisch/Röm.-kath. Gesprächskommission der Schweizer und der Deutschen Bischofskonferenz; ständiger Berater des Heiligen Stuhls für Belange des Judentums.

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3. Januar 2018 | 10:00