Heinrich Müller – Von Afrika nach Leutschenbach

Der «Tagesschau»-Moderator Heinrich Müller denkt zurück an seine Kindheit im Pfarrhaus und die schicksalshaften Begegnungen während seiner Ausbildung, die ihn später für viele Jahre nach Nigeria geführt und seine Verbundenheit mit Afrika begründet haben

«Ich kenne die Bibel gut», sagt Heinrich Müller (58). Kein Wunder, ist er doch in einem Pfarrhaus grossgeworden, was ihn fürs ganze Leben geprägt hat. Vor allem Müllers Mutter spielte eine wichtige Rolle: «Meine Mutter war eine reformierte Pfarrfrau im besten Sinn des Wortes, nicht nur für uns Kinder, für Haus und Garten, sondern auch für die Gemeinde.» Sie habe im Grunde über Religion nur wenig Worte verloren, doch sie habe Religion im Alltag gelebt. «Nächstenliebe und soziales Verständnis sind mir von meiner Mutter vorgelebt worden. Sie hat in mir Mitgefühl für Menschen geweckt, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.»

Frühe Kontakte mit Schwarzafrikanern

Bereits im elterlichen Pfarrhaus im luzernischen Reiden gab es erste Begegnungen mit Schwarzafrikanern. «Als Sechsjähriger habe ich mit schwarzen Missionaren aus Ghana und Südafrika gespielt. Dies ergab sich aus unserer Beziehung zur Basler Mission.»
Dann übernahm der Vater die reformierte Pfarrei in Rheinfelden. Bezirksschule, Humanistisches Gymnasium und Jurastudium in Basel absolvierte der junge Mann vielversprechend, eine Zukunft in Afrika war aber noch kein Thema. Erst die Begegnung mit Sprachforschern, die einer der zahlreichen nigerianischen Stammessprachen auf die Spur kommen wollten, sollte der Auslöser werden für eine intensivere Hinwendung zu dem von rund 400 Stämmen bevölkerten afrikanischen Land. «Es ging darum, diese Sprache, die noch nicht übersetzt worden war, zumindest linguistisch zu verstehen. Da sich offenbar sonst niemand dafür finden liess, nahm ich die Einladung nach Nigeria dankend an.»

Ein Thema für die Dissertation

Später gab der Basler Jura-Professor Saladin den Anstoss für das Thema von Müllers Dissertation. Der Professor beschäftigte sich mit europäischen Rechtssystemen; Grund genug für den angehenden Doktor der Jurisprudenz, sein Augenmerk erneut auf Nigeria zu richten. Die Arbeit «Das Verfassungsrecht in jungen Vielvölkerstaaten» liess sich nach Meinung von Heinrich Müller anstelle eines trockenen Studiums in den Bibliotheken sachdienlicher vor Ort, also in Nigeria selbst, bewältigen. Er packte seinen Koffer und reiste mit Begeisterung erneut nach Afrika, um das staatspolitisch so wichtige Thema in dem bevölkerungsreichen Land zu recherchieren. «Für meine Recherchen habe ich zwei Jahre lang ganz bewusst in einem Armenviertel im Nordosten Nigerias mit den Menschen zusammengelebt.» Heinrich Müller spricht nüchtern über die primitiven Verhältnisse: «Wir wohnten auf engstem Raum, ein Wasserhahn musste für alle reichen. Mir wurde damals klar, was es heisst, aufeinander angewiesen zu sein. Es war trotzdem eine schöne Zeit.»

Dozent an der Universität von Maidiguri

Als promoviertem Juristen standen ihm in der Heimat alle Türen offen, doch Heinrich Müller wählte seinen eigenen Weg. Er wurde Dozent an der Universität von Maidiguri in Nigeria. Ein weisser Dozent unter schwarzen Studenten. «Ich war vom Staat angestellt und erhielt einen guten Lohn, ich konnte mir sogar für meine Recherchen einen VW leisten.» Doch Nigeria war ein vom Bürgerkrieg zerrissenes, unruhiges Land. «Ich bin oft unterwegs gewesen, und das war ziemlich anstrengend. Es gab Anschläge und Raubüberfälle. An der Universität revoltierten die Studenten, Häuser von hohen Beamten wurden angezündet.»
Als das Militär nach dem Biafra-Krieg die Macht im Land übernommen hatte, blieb auch das wenige an demokratischem Bewusstsein auf der Strecke. Die Verfassung war weitgehend ausser Kraft gesetzt. Eine schwierige Phase, auch noch Jahre danach, für einen Dr. Heinrich Müller aus der Schweiz, der seinen Studenten demokratisches Staats- und Verfassungsrecht zu erklären hatte. «Wir waren in den Vorlesungen Muslime und Christen. Ich habe mich nicht gescheut, in einem verfassungsrechtlichen Rahmen politische Seminare durchzuführen. Was darf der Staat, und was darf er nicht? Was darf die Polizei, und was darf sie nicht? Das waren Fragen, die ich als Dozent den Studenten stellen konnte.»
Auch christliche Fragen beschäftigten Müller weiter, als er erlebte, wie sich die Missionare aus dem Land zurückziehen mussten. Das sei für die betroffenen Gebiete zum Teil sehr schlimm gewesen. Vor allem Schulen und Spitäler hätten unter den Folgen zu leiden gehabt. «Die Stimmung in Dörfern, wo weisse Missionare stets für einen Ausgleich zwischen unverträglichen Bewohnern gesorgt hatten, war nach der Ausweisung oft explosiv», erzählt Müller. In den Jahren darauf habe sich Nigeria bemüht, auch aus kirchlicher Sicht eigene Strukturen aufzubauen. «In der afrikanischen Gesellschaft basiert vieles auf urchristlichen Werten, zum Beispiel der Zusammenhalt in den Familien und das solidarische Verhalten. Offiziell gilt zwar Religionsfreiheit, doch der grosse islamische Bevölkerungsanteil sorgt immer wieder für Probleme.» Das Gebiet, wo Heinrich Müller damals lebte, war überwiegend muslimisch. «Ich selbst hatte in meiner Umgebung nie Schwierigkeiten mit Muslimen, sie gehörten eher zu den gemässigten Gruppierungen.»

Rückkehr in die Heimat

Trotz aller Liebe zu einem Land, in dem er sich in fast zehn Jahren voll integriert hatte, kam Heinrich Müller 1981 wieder in die Schweiz zurück. Er bewarb sich beim Schweizer Fernsehen. Für die «Rundschau» war er im ganzen südlichen Afrika als Reporter unterwegs. Seine umfassenden Kenntnisse der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse waren beim SF DRS hoch willkommen. In einem Interview mit der «Basler Zeitung» sagte er einmal: «Ich habe Südafrika sozusagen mit der Kamera zur Unabhängigkeit begleiten dürfen.»
Auch wenn er später als «Tagesschau»-Moderator und -Redaktor arbeitete, blieb Heinrich Müller Nigeria treu. 1992 heiratete er Ruth Balami, eine attraktive Nigerianerin. Sie waren sich 1972 in einer Missionsschule erstmals begegnet, verloren sich aber dann zwanzig Jahre aus den Augen. Ruths familiäre Bande, sowohl afrikanischen als auch amerikanischen Ursprungs, führen Heinrich Müller stets wieder dorthin zurück, wo er einst begonnen hatte, eine fremde Welt für sich zu entdecken und zu verstehen.
Sein bewegtes Leben erhielt aktuell noch – eine viele Leute überraschende – musikalische Facette: Heinrich Müller präsentierte sich mit einer ersten CD als professioneller Liedermacher. In seinem Haus in der Nähe von Zürich, in einem Kellerstudio, sind elf englische Songs entstanden, die in Nashville, USA, von etablierten Musikern eingespielt wurden. Vielleicht ist sein erfolgreiches musikalisches Projekt «Footsteps» auch ein Dank an seine Frau und an das afrikanische Land, das ihn in jeder Hinsicht akzeptiert hatte.

Text: Friedrich Plewka

Sonntag
29. August 2004 | 00:00