Die Sprache des Kultes

Hans A. Rapp zu Hebr 5,1-6

Auf den Text hin
Priester und Priestertum sind in den meisten Religionen bekannt. Priester sind Mittler zwischen Mensch und Gott, zwischen Diesseits und Jenseits. In den antiken Gesellschaften hatten sie dadurch eine zentrale Rolle in der Gesellschaft. Priesterlicher Dienst war innerhalb des damaligen Weltverständnisses Dienst an der Erhaltung der Welt. Der Kult garantiert die Verbindung zwischen Gott und Mensch, zwischen Diesseits und Jenseits. Ist diese Verbindung gestört, kann sie durch die kultische Handlung wiederhergestellt werden. Der Hebräerbrief bedient sich dieser Vorstellungen. Er überträgt die Charakteristika des Priestertums und der Priester gänzlich auf Jesus. Er versucht, den Glauben an Jesus in den Kategorien des zeitgenössischen Kultes neu zu formulieren: In Jesus hat der Kult und damit das Priestertum seinen Höhe- und seinen Endpunkt gefunden. Gerade darin könnte der Text wieder aktuell sein.

Mit dem Text unterwegs
Hebr 5,1 holt seine Leser und Leserinnen ab, wo sie stehen: bei den liturgischen Erfahrungen, die sie gemacht haben, wo sie herkommen. Wenn der Hebräerbrief auf «jeden Hohepriester» verweist, können sich alle Lesenden etwas darunter vorstellen, seien es nun Syrer, Ägypter, Griechen oder Römer. Selbstverständlich sind die Priester, die diese Menschen kannten, Menschen wie sie selbst. Hebr 5,1­6 nimmt die Lesenden von hier aus in eine Denk-Bewegung hinein. Der Text beginnt mit einem Verweis auf «jeden Hohepriester» (5,1), führt über Aaron als Beispiel des von Gott berufenen Hohepriesters (5,4) und er endet mit Jesus als Hohepriester einer ganz neuen Art (5,5f.), der aber die Merkmale traditionellen (Hohe-)Priestertums aufnimmt, aufhebt und weiterführt. Der Weg führt damit von einem allgemeinen Priesterbild über das Priesterkonzept des Ersten Testaments hin zu etwas völlig Neuartigem. Wie an anderen Stellen auch, drückt der Verfasser des Hebräerbriefes dies durch Zitate aus dem Ersten Testament aus (Ps 2,7 und 110,4), die in seiner Gegenwart messianisch gedeutet wurden. Der Text führt die Lesenden damit aus ihren unterschiedlichen kulturellen Kontexten auf Christus hin.
Ein Hohepriester wurde eingesetzt, um «die auf Gott gerichteten» Handlungen zu vollziehen (Hebr 5,1). Der Hebräerbrief bringt als Beispiele die Gaben und die Sündopfer (vgl. auch Hebr 8,3). Innerhalb des antiken Kultes sind damit die zwei grundsätzlichen kultischen Handlungen gemeint: Unterhalt (Gaben) und Erneuerung (Sündopfer) der Gottesbeziehung, die durch menschliche Verfehlungen gestört oder unterbrochen wurde. An Kapitalvergehen ist hier nicht gedacht. Der Priester hat Mitleid mit denen, die das Gleichgewicht zwischen Gott und Mensch durch Unwissenheit und Irrtum gestört haben. Dahinter steckt die Vorstellung, dass der Mensch sich nicht nur dann Schuld auflädt, wenn er absichtlich gegen Werte und Normen verstösst, sondern auch wenn er dies unwissentlich macht. Auch wenn das in unserer Gegenwart kein nahe liegender Gedanke ist, hat er dennoch einen plausiblen sachlichen Grund: Taten aus Unwissenheit und Irrtum können das menschliche Miteinander und die Ordnung des Kosmos genau so belasten wie beabsichtigte Handlungen. Für den antiken Menschen war es also selbstverständlich, dass diese Brüche in der Ordnung repariert werden mussten.
Davon ist der Priester selbst nicht ausgenommen. Auch wenn von ihm in der Regel verlangt wird, dass er ein makelloser Mensch ist, weiss man doch allzu gut, dass das so nicht realistisch ist. Der Hebräerbrief drückt das durch die Formulierung aus, dass ein Hohepriester die Schwachheit wie ein Kleid um sich trägt und daher nicht nur das Volk mit Gott zu versöhnen hat, sondern auch sich selbst. Für den Text ist diese Solidarität des Vermittelnden mit denen, die er repräsentiert, im Blick auf Jesus von unübersehbarer Bedeutung (vgl. 4,15; 5,7.8). Mit einem ganz abgehobenen Vermittler kann der Autor des Hebräerbriefes nicht viel anfangen. Priesterlicher Dienst ist in diesem Sinne immer auch mitfühlender Dienst. Nur weil der (Hohe-)Priester um seine eigene Schwachheit weiss, kann er den Menschen vermittelnd dienen (Hebr 5,2). Deshalb ist sein Amt für den Hebräerbrief kein Beruf wie andere, sondern eine Berufung durch Gott (5,4).

Über den Text hinaus
Bei den Evangelien macht sich eine deutliche Distanz Jesu zum Tempel und der kultischen Frömmigkeit seiner Zeit bemerkbar. Jesus als Hohepriester zu deuten, ist auf diesem Hintergrund nicht nahe liegend. Doch ist es gerade das kultische Leben, durch das viele Menschen religiös sozialisiert wurden. Wie immer nahe sie innerlich den traditionellen Riten gegenübergestanden haben mochten, sie kannten sie doch und haben mehr oder weniger intensiv daran teilgenommen. Wenn der Hebräerbrief an diese Vorstellungswelt anknüpft und die Wirklichkeit Jesu in die vertrauten Begriffe des Kultes giesst, hilft er seinen Hörern und Hörerinnen, die Bedeutung Jesu zu begreifen. Er erreicht mit dieser Botschaft Griechen ebenso wie Juden.
Gleichzeitig übersteigt er dieses Denken. Denn das Christusereignis lässt sich zwar in kultischer Terminologie formulieren, es macht aus dem kultischen Denken aber etwas völlig Neues. Der Hebräerbrief will ja gerade kein neues Kultsystem aufstellen, sondern überführt jeden irdischen Kult in das Amt des himmlischen Hohepriesters, dessen Opfer die Menschen ein für alle Mal mit Gott versöhnt hat (Hebr 10,10).

Der Autor: Hans A. Rapp, im Fach Judaistik promovierter Theologe, ist Bildungsleiter im Haus Gutenberg in Balzers (Fürstentum Liechtenstein).

Literatur: M. Karrer, Der Brief an die Hebräer, ÖTKNT 20/1, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2002, 249­268; R. Oberforcher, «Das alttestamentliche Priestertum und die tragenden Priestergestalten», in: M. Öhler (Hrsg.), Alttestamentliche Gestalten im Neuen Testament, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, 141­160.


Er-lesen
Lesen Sie den Text mehrmals langsam laut vor. Unterstreichen Sie Ausdrücke, die den Hohepriester beschreiben. Welche Arten der Beschreibung entdecken Sie? Auf welche Fähigkeiten und Charaktereigenschaften beziehen Sie sich?

Er-hellen
Ordnen Sie die Eigenschaften des Hohepriesters, die Sie oben gesammelt haben, dem zu, was Sie über Jesus wissen. Was passt dazu? Was passt nicht dazu?

Er-leben
Nehmen Sie sich 10­15 Minuten Zeit, während denen Sie den Text nochmals durchlesen. Wählen Sie sich den Satz aus Hebr 5,1­6 aus, der Sie am meisten anspricht. Notieren Sie ihn auf einen Zettel und legen Sie die Zettel auf dem Boden aus. Gehen Sie zu ruhiger Musik herum und lesen Sie die verschiedenen Sätze. Überlegen Sie, weshalb die anderen ihre Sätze ausgewählt haben könnten. Teilen Sie in einer Schlussrunde den anderen Gruppenmitgliedern mit, weshalb Sie Ihren Satz ausgewählt haben.

BPA und SKZ
19. Oktober 2003 | 00:00