Das Schlössli für «gefallene Mädchen»

Seit 111 Jahren sorgt die Heilsarmee für junge Frauen in einer Krisensituation

Mit einem Tag der offenen Tür feiern morgen Bewohnerinnen und Betreuerinnen das 111-jährige Bestehen der sozialpädagogischen Einrichtung Schlössli auf dem Bruderholz.

MONIKA ZECH
Die Geschichte des Schlössli ist auch eine Geschichte über den gesellschaftlichen Wandel der letzten 111 Jahre. So wird in einem der ersten Berichte eine junge Frau, die im «Rettungshaus für gefallene Mädchen» aufgenommen wurde, wie folgt beschrieben: «Es hatte 23 Jahre in Sünde gelebt. Zuerst verführt, verlassen, dann immer tiefer gefallen, war sie ein Schrecken der Polizei geworden.»
Es seien vielfach ledige Mütter gewesen, sagt Daniel Simeone, der heute das Schlössli leitet. «Junge Frauen, die vom damals vorgegebenen Weg abgekommen waren.» Oft sind mehrere Dinge zusammengekommen. Eine unziemliche Schwangerschaft, Kindesentzug, Alkohol, Prostitution. Heute wohnen im Schlössli Jugendliche im Alter zwischen 13 und 19 Jahren, die aus unterschiedli- chen Gründen in einer sogenannten Krisensituation sind – «Jugendliche», so Simeone, «die Unterstützung brauchen, um eines Tages ein eigenständiges Leben führen zu können».

Ging es einst im Schlössli um Frauen, die an den rigiden Moralvorstellungen einer gnadenlosen Gesellschaft scheiterten, sind es heute oft Mädchen, die wegen des Fehlens jeglicher Wegweiser nicht wissen, wo es langgeht. Was Daniel Simeone heute als ein grosses Problem der Jugendlichen feststellt, ist deren «geringe Frustrationstoleranz». Ein aufgebrauchtes Gesprächskonto auf dem Handy könne bereits ein Grund zum Ausflippen sein. Deshalb ist ein wichtiger Teil der Arbeit mit den Mädchen, ihnen den Umgang mit Geld beizubringen.

GOTTES LOHN.
Verändert haben sich in diesen 111 Jahren ebenso die Anforderungen, die an das Betreuungspersonal gestellt werden.
Kümmerten sich einst Frauen der Heilsarmee ohne spezielle Ausbildung um die «gefallenen Mädchen», einfach aus christlicher Nächs- tenliebe und deshalb auch für Gottes Lohn, sind heute ausgebildete Sozialpädagoginnen und -pädagogen angestellt. Die Heilsarmee ist Trägerverein und so- mit Arbeitgeber. Zwar heisst es im pädagogischen Konzept, den Jugendlichen soll der «christliche Glaube vorgelebt» werden – aber, sagt Simeone, «im Sinn der christlichen Werte».

Es gebe weder den Zwang zum Gebet noch zum christlichen Glauben. «Wir haben auch Mädchen aus anderen Kulturen bei uns.» Nein, die Sozialwerke der Heilsarmee seien keine Bekehrungsinstitutionen, das Engagement für Menschen in Not sei seit ihrer Gründung immer Teil der Organisation und unei- gennützig gewesen. So ist Simeone auch nicht Mitglied der Heilsarmee, die An- forderungen für die Betreuer seien primär professioneller Natur.

Das Schlössli feiert zwar sein 111-jähriges Bestehen, aber zu einem richtigen Schlössli wurde es erst im Jahr 1907, als die Heilsarmee durch ein grosszügiges Legat das zum Verkauf ste- hende Gundeldingerschlössli erwerben konnte. Das erste «Rettungsheim für ge- fallene Mädchen» war eine gemietete kleine Villa an der Allschwilerstrasse, zwei Jahre später zog man in ein Hinter-aus an der Breisacherstrasse.

FIT FÜRS LEBEN.
Doch man kämpfte stets mit Platzproblemen. Die Arbeitsstube war eng. Denn selbstverständlich frönten diese Mädchen nicht dem Müssiggang – dem Anfang aller Laster. Ziel war ja, die Frauen wieder ins normale Leben zu führen. «Wir besorgen gern Wäsche und alle Arten von Näharbeit», schrieb die erste Hausmutter die Öffentlichkeit an. Im Gundeldingerschlössli konnte man nun endlich eine richtige Wäscherei und Näherei einrichten – und 30 Mädchen aufnehmen. So kam das Schlössli zu seinem Namen und behielt ihn weiterhin, obwohl es 1951 «wegen Baufälligkeit» abgerissen und gegen ein neu erbautes Haus auf dem Bruderholz ausgewechselt wurde.
Dort, in Nachbarschaft von prächtigen Häusern, steht das Schlössli heute noch. Vor sieben Jahren wurde es reno- viert und den heutigen Bedürfnissen angepasst. So wohnen maximal noch 14 Jugendliche in dem Haus, aufgeteilt in zwei Gruppen. Sie besuchen weiter- hin die Schule oder gehen in die Lehre. Sie lernen nach bestimmten Regeln le- ben – sie müssen kochen, einkaufen, aufräumen. Schrittweise wird ihnen die Verantwortung für die Mahlzeiten übertragen. Sie besorgen nur noch ihre eige- ne Wäsche, aber das müssen sie.
Verändert hat sich in den 111 Jah- ren vieles, das Ziel ist dasselbe geblie- ben: Die Mädchen sollen fit fürs Leben werden. Tag der offenen Tür, 10 bis 16 Uhr, Schlössli, Eichhornstr. 21

Basler Zeitung
20. Mai 2011 | 09:00