Christentum und Sex

Niklaus Peter ist Pfarrer am Fraumünster in Zürich.

Das Christentum und seine Profis stecken in ambivalenten Geschichten, wenn es um Sexualität geht. Die frühe christliche Askese und Ethik, die in der antiken Welt auch die sogenannten Heiden beeindruckt hatten, führten später zu einer Doppelmoral, die mit moralinsaurem Ton und scharfem Beichtwesen traumatische Wirkung zeitigte. Als die Reformation mit dem Zwangszölibat und der Ohrenbeichte zwei der Kerne des Systems wegfegte, bekam eine realistische Lebensethik eine neue Chance. Aber bald hielt (bei uns Reformierten jedenfalls) ein kalter Moralismus Einzug, der keineswegs lebensbejahend war.

Das ist vermutlich der Grund, weshalb Kirchen und Theologie im Zuge der Achtundsechzigerjahre gegenüber dem Befreiungspathos der «sexuellen Revolution» weder religiös-ethische Konzepte noch die Glaubwürdigkeit besassen, um gegen eine mythische Überhöhung des Sexus, gegen sexualpädagogische, pädophilienahe Experimente in «freien» Kindergärten und Schulen Einspruch zu erheben. Lieber war man jetzt «modern» und dabei (oder jedenfalls in der Nähe), wenn mit Wilhelm Reichs und Norman O. Browns Sexualtheorien eine entgrenzende Art von Körpermythologie eingeübt wurde – man war «spirituell» geworden. Man sprach von Prostitution als einem normalen Beruf, von «Sexarbeit», man wollte die Prüderie früherer Zeiten überkompensieren. Dass Prostitution oft gewalttätig, dass Pornografie süchtig machend, zerstörerisch ist, das alles war nun bürgerlich-repressives Gerede. Für mahnende, biblische Stellen und verklemmte Sexualethik entschuldigte man sich nun. Nicht völlig falsch, aber anpas serisch, verantwortungslos und vor allem: realitätsfern.

Wenn man schon von biblischen Texten und seelsorgerlichen Traditionen nichts mehr wissen wollte, warum holte man sich nicht Rat bei der Literatur? Etwa bei Shakespeare, der ja nun wirklich kein Moralist war. Natürlich sollte man dann nicht nur das Sonett 18 lesen («Soll ich dich einem Sommertag vergleichen? Er ist wie du so lieblich nicht und lind»), sondern auch das Sonett 129, wo Shakespeare mit mythologiefreier Präzision und klinischer Kälte entgrenzte sexuelle Lust beschreibt:

Th’ expense of spirit in a waste of shame

is lust in action; and till action, lust

is perjur’d, murderous, bloody, full of blame,

savage, extreme, rude, cruel, not to trust.

Wollust, die Tat wird, heisst, den Geist verprassen

In einem Pfuhl der Schmach; und vor der Tat

Meineidig, mörderisch und ehrverlassen,

Wild, grausam, blutig, roh und voll Verrat.

Wäre es nicht die Aufgabe einer realistischen Sexualethik, die beflügelnden, wunderbaren Seiten von Erotik zu beschreiben, aber eben auch diese «shakespeareschen»? Und dann auf jene Verhaltensregeln hinzuweisen, die Leben ermöglichen, Beziehungen schützen, Sucht und Selbstverlust vermeiden helfen? Shakespeares Sonett schliesst mit überraschenden Worten:

Wir wissen’s alle, aber keiner flieht

Den Himmel, drin solch höllisch Feuer glüht.

Das Magazin
31. Oktober 2020 | 10:55