Brutale Gewalt und schwere Menschenrechtsverletzungen an der griechisch-türkischen Grenze

  • Griechische Grenzschutzbehörden verletzten Rechte von Geflüchteten schwer: Amnesty International bestätigt erstmals Tote bei Vorfällen an der Grenze zur Türkei
  • Drohende humanitäre Katastrophe durch Covid-19 in griechischen Flüchtlingslagern
  • Amnesty fordert Evakuierung der Camps und Aufnahme von Schutzsuchenden in EU-Staaten und der Schweiz
  • Bericht im Anhang

Medienmitteilung: Die griechischen Grenzschutzbehörden sind mit massiver Gewalt und unter schwerer Missachtung des Völkerrechts gegen Menschen auf der Flucht und Migrantinnen und Migranten vorgegangen. Recherchen von Amnesty International belegen erstmals zwei Todesopfer während der gewaltsamen Vorfälle an der griechisch-türkischen Grenze Ende Februar/Anfang März. Hunderten von Menschen, die über das Meer auf griechische Inseln flohen, wurde das Recht, Asyl zu ersuchen, verwehrt. Tausende weitere sind in den überfüllten Camps durch die Covid-19-Pandemie akut bedroht.

Die Gewalt an der griechisch-türkischen Grenze hat Anfang März mindestens zwei Todesopfer gefordert. Das bestätigen Recherchen von Amnesty International. Eine Frau wird weiterhin vermisst, nachdem griechische Grenztruppen scharfe Munition und Tränengas gegen Asylsuchende und Migrantinnen und Migranten abgefeuert hatten. Tausende von Menschen waren ab dem 27. Februar von den türkischen Behörden unter falschen Vorwänden dazu ermutigt worden, die Grenze zu Griechenland zu überqueren.

Muhammad Gulzari, ein 43-jähriger Mann aus Pakistan, wurde beim Versuch, den Grenzübergang Pazarkule/Kastanies nach Griechenland zu überqueren, in die Brust geschossen. Am 4. März wurde er in einem türkischen Krankenhaus für tot erklärt. Bei dem Zwischenfall wurden fünf weitere Menschen durch Schüsse verletzt. Ein 22-jähriger Syrer, Muhammad al-Arab, starb am 2. März in derselben Gegend. Seine Tötung wurde von Forensic Architecture dokumentiert.

Eine dritte Person, Fatma (nicht ihr richtiger Name, Anm.) aus Syrien, wird vermisst und ist vermutlich tot. Sie und ihr Mann wurden von ihren sechs Kindern getrennt, als sie versuchten, den Fluss Evros/Meriç südlich von Edirne zu überqueren, um nach Griechenland zu gelangen. Ahmed (nicht sein richtiger Name, Anm.) erzählte Amnesty International, dass griechische Soldaten Schüsse auf seine Frau abgefeuert hatten, als sie versuchte, zu ihren Kindern auf der griechischen Seite des Flusses zu gelangen.

Ahmed sagte gegenüber Amnesty International, dass die griechischen Behörden ihn und die Kinder anschliessend vier oder fünf Stunden lang festhielten. Sie hätten sich ausziehen müssen und ihre Habseligkeiten seien ihnen abgenommen worden. Danach wurden sie zurück zum Fluss gefahren und in ein Holzboot gesetzt, das sie auf die türkische Seite zurückbrachte. Obwohl Ahmed in beiden Ländern Anwälte eingeschaltet hat, um herauszufinden, was mit seiner Frau passiert ist, bleibt ihr Schicksal ungewiss.

«Jede Person sollte menschlich behandelt werden und Zugang zu Schutz in den Ländern erhalten, in denen er oder sie Sicherheit sucht», sagt Massimo Moratti, stellvertretender Europa-Direktor bei Amnesty International, und sagt weiter: «Die Menschen reisten von der Türkei nach Griechenland, um Sicherheit zu suchen – und wurden mit schwerer Gewalt konfrontiert. Mindestens zwei Menschen wurden auf tragische Weise getötet. Wir fordern, dass die Gewalt unverzüglich und unparteiisch untersucht werden.»

Gewalt gegen Asylsuchende an der Grenze

Asylsuchende und Migrantinnen und Migranten erzählten Amnesty International, wie die griechischen Grenztruppen sie gezielt abwiesen, anstatt ihre Asylanträge auch nach der Einreise auf griechisches Territorium anzunehmen. Dies verstösst gegen internationale Menschenrechtsverpflichtungen. AugenzeugInnen berichteten ausserdem, dass sie von Grenzschutzbeamten mit Knüppeln geschlagen, an Orten im Grenzgebiet während Stunden bis zu mehreren Tagen festgehalten und in Gruppen in Booten über den Fluss Evros/Meriç in die Türkei zurückgeschickt wurden.

Geflüchtete berichteten Amnesty International zudem, dass die Grenztruppen auch ihr Geld – in einigen Fällen Tausende von Dollar, die einzigen Ersparnisse – mitnahmen, mit dem sie gehofft hatten, in Europa ein neues Leben zu beginnen.

Die Gewalt der griechischen Beamten beschränkte sich nicht auf die Grenzgebiete. Ein Mann aus Deir ez-Zor, Syrien, berichtete Amnesty International über seine Erfahrungen bei der Einreise nach Griechenland am 4. März: «Ich überquerte den Fluss und ging vier Tage und vier Nächte durch Griechenland, bevor ich gefasst wurde. Sie fuhren mich zu einem Ort, an dem sie mich geschlagen und mir mein Telefon und mein Geld, 2000 Lira [ca. 275 Euro], abgenommen haben; das war alles, was ich habe. Sie brachten mich über den Fluss zurück in die Türkei und liessen mich dort ohne Mantel und Schuhe zurück.»

Willkürliche Inhaftierungen und Aussetzung des Asylrechts

Als Reaktion auf das Vorgehen der Türkei verstärkte Griechenland auch seine Patrouillen auf dem Meer: 52 zusätzliche Schiffe wurden eingesetzt, um die Ankunft von Menschen auf den Inseln zu verhindern. Zudem wurden zusätzliche Ressourcen von Frontex, der EU-Grenzschutzbehörde, mobilisiert.

Parallel dazu wurden durch die Notstandsgesetzgebung alle neuen Asylanträge im ganzen Land für einen Monat ausgesetzt – ein eklatanter Verstoss gegen internationales Recht und gegen EU-Recht. Zwar ist diese Regelung am 2. April ausser Kraft getreten, doch Schutzsuchenden wird weiterhin der Zugang zum Asyl verwehrt, da die griechischen Asylbehörden seit dem 13. März aufgrund von Covid-19 ihre Arbeit unterbrochen haben. 

Auf den Inseln der Ägäis wurden alle, die nach dem 1. März 2020 ankamen, willkürlich in Hafenanlagen und anderen Gebieten festgehalten, ohne Möglichkeit, Asyl zu beantragen. Allein auf Lesbos wurden rund 500 Menschen – darunter über 200 Kinder – inhaftiert. Alle auf den Inseln inhaftierten Menschen wurden schliesslich am 20. März in grössere Haftzentren auf dem griechischen Festland verlegt, von wo ihnen die Rückschiebung in die Türkei oder in «Herkunfts- oder Transitländer» droht.

Katastrophale Lage in den Camps

Wegen der Coronavirus-Pandemie droht in den überfüllten Flüchtlingslagern eine humanitäre Katastrophe. Sollte sich das Coronavirus droht ausbreiten, wären Unzählige der Krankheit hilflos ausgesetzt.

Die Lager auf den Inseln sind hoffnungslos überbelegt, es mangelt an sanitären Einrichtungen und Zugang zu sauberem Wasser. In den Camps leben nicht weniger als 37›000 Menschen, darunter 5.200 unbegleitete Minderjährige. Tatsächlich sind die Einrichtungen für die Aufnahme von gut 6.000 Menschen ausgelegt. Auf Lesbos sind 19›000 Menschen in einem Zentrum für 2›800 Personen eingepfercht.

Umso dringlicher ist es, dass Europa und die Schweiz nun schnell handeln und möglichst rasch Flüchtlinge aus den Lagern übernehmen. Amnesty International fordert in einem Appell zusammen mit zahlreichen weiteren NGO von den griechischen Behörden die umgehende Evakuierung von Flüchtlingen auf das Festland.

«Griechenland muss seine Haltung ändern und Schutzsuchenden den Zugang zum Asylverfahren und grundlegenden Dienstleistungen ermöglichen. Sie müssen die Menschen aus Haftanstalten und unhygienischen Lagern in sichere und angemessene Unterkünfte bringen. Die rasche Verbreitung von Covid-19 macht diese Forderung umso dringlicher», sagte Massimo Moratti.

«Die europäischen Länder müssen sich jetzt solidarisch zeigen und Asylsuchende aus Griechenland und der Türkei aufnehmen. Mit den richtigen Gesundheitskontrollen und Quarantänen kann Flüchtlingen auch während der Covid-19-Pandemie Schutz geboten werden». 

Amnesty International ruft auch die Schweiz in einer Petition dazu auf, ein umfangreiches Kontingent von Flüchtlingen aus Griechenland aufzunehmen. Zudem muss die Rückführung von Flüchtlingen nach Griechenland ausgesetzt werden.

Download des Berichts unter diesem Link: https://www.amnesty.org/en/documents/eur01/2077/2020/en/

Amnesty International
3. April 2020 | 10:39