Heilig, göttlich, gottesgleich? – Pius IX. und die Unbefleckte Empfängnis

Es war Bruch mit allen Traditionen. Mittels päpstlicher Autorität dogmatisierte Pius IX. 1854 die Unbefleckte Empfängnis. Der Vorgang war ein Testdurchlauf für einen noch grösseren Coup: die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit.

Annalena Müller

Was selbst viele Katholiken nicht wissen: Das Dogma der Unbefleckten Empfängnis hat nichts mit der Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist zu tun. Diese ist im Dogma der Jungfrauengeburt abgehandelt. Bei der unbefleckten Empfängnis geht es um Marias Mutter Anna. Und wie diese schwanger wurde, ohne dass dabei die Erbsünde auf Maria überging.

Theologisch vertrackt

Seit dem Mittelalter quälte Christen die Frage: Wie war es möglich, dass Jesus ohne Erbsünde geboren wurde, obwohl seine Mutter ein normaler Mensch war? Für die Gläubigen war klar: Der menschgewordene Gott konnte nicht von einer mit der Erbsünde belasteten Mutter geboren worden sein.

Der Moment der Entstehung der Erbsünde. Darstellung des Sündenfalls im 17. Jahrhundert.
Der Moment der Entstehung der Erbsünde. Darstellung des Sündenfalls im 17. Jahrhundert.

Das theologische Grundproblem: Jeder Mensch wird sündig geboren. Also auch Maria. Denn seit Adam und Eva die verbotene Frucht des Baumes assen, wird diese Sünde im Zeugungsakt weitergebeben. Der Samen des Mannes «pflanzt» sie sozusagen im Mutterleib ein.

Erbsünde Jesu ein Nicht-Problem

Eigentlich hätten die theologischen Sorgen hier enden können. Denn nach mittelalterlicher Überzeugung braucht es den Samen des Mannes zur Weitergabe der Erbsünde.

Bekanntermassen spielt aber Josefs Samen bei der Zeugung Jesu keine Rolle. Sondern nur der des Heiligen Geistes. Dieser wiederum ist natürlich frei von Erbsünde. Daher ist die Frage nach der Sündhaftigkeit Jesu ein theologisches Nicht-Problem.

Josef erfährt von Mariens Schwangerschaft. Sein Same war nicht involviert - und damit auch keine Erbsünde
Josef erfährt von Mariens Schwangerschaft. Sein Same war nicht involviert - und damit auch keine Erbsünde

Aber kann man sich da wirklich so ganz sicher sein? Vielleicht ging bei der Geburt doch ein bisschen Erbsünde von der Mutter auf das Kind über? Im Volksglauben etablierte sich jedenfalls die Vorstellung, dass auch Maria ohne Erbsünde geboren wurde. Dass Anna sie also unbefleckt empfangen hatte.

Theologisch umstritten

Unter den grossen Theologen konnte sich diese Vorstellung allerdings nicht etablieren. Sie sahen darin eine opinio nova, eine neue Idee, die jeder biblischen und theologischen Grundlage entbehrte.

Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin (†1274) führte Jesu Freiheit von der Erbsünde auf dessen göttliche Erschaffung zurück. Als Gott dem Embryo die menschliche Seele einpflanzte, befreite er diesen von der Erbsünde.

Kirchenlehrer Thomas von Aquin
Kirchenlehrer Thomas von Aquin

Was Maria anging, war für den Kirchenlehrer klar: Sie wurde mit Erbsünde geboren. «Wenn Maria ohne Erbsünde empfangen worden wäre, müsste sie nicht durch Christus erlöst werden. Und dann wäre Christus nicht der allgemeine Erlöser der Menschheit».

Von der «frommen Meinung» zum Dogma

Während Theologen die Unbefleckte Empfängnis lange ausschlossen, war die Vorstellung im Volksglauben fest verankert. Im marienbesessenen 19. Jahrhundert mehrten sich die Stimmen, die forderten, die «fromme Meinung» zum Glaubensdogma zu erheben.  

"Marie conçue sans pêche, priez pour nous". Diese Medaillien waren im 19. Jahrhundert äusserst populär. Auch Pius IX trug eine solche.
"Marie conçue sans pêche, priez pour nous". Diese Medaillien waren im 19. Jahrhundert äusserst populär. Auch Pius IX trug eine solche.

Papst Gregor XVI. (1831–1846) liess daher der Frage nachgehen, ob eine Dogmatisierung theologisch möglich sei. Sein Befund: negativ.

Wie die Kirche zu Dogmen findet

Denn für die Proklamierung eines Dogmas galten seit dem Tridentinischen Konzil (1545-1563) klare Kriterien. Ein dogmatischer Glaubenssatz muss in einer kirchlichen Offenbarungsquelle zweifelsfrei nachweisbar sein.

Das Konzil von Trient tagte von 1545-1563
Das Konzil von Trient tagte von 1545-1563

Bis zum Ersten Vatikanum (1870) anerkannte die Kirche zwei Offenbarungsquellen: die Bibel und die traditio, also die theologische Wirkungsgeschichte. Keine der beiden Offenbarungsquellen erlaubte die Dogmatisierung.

Die Bibel äussert sich nicht zur Empfängnis Mariens. Einige der einflussreichsten Denker der Kirche hatten sich allerdings mit der Frage befasst. Und viele hatten die Idee der Unbeflecktheit rundherum abgelehnt. Eine Dogmatisierung der «frommen Meinung» war also nach geltender Praxis unmöglich.

Pius IX und neue Regeln

1846 bestieg mit Pius IX. (†1878) ein glühender Marienverehrer den Stuhl Petri. Und wie sich bald zeigte: Was für frühere Päpste galt, sollte für Pius nicht mehr gelten.

Pius IX. verhindert bis heute den Gang der Kirche in die Moderne.
Pius IX. verhindert bis heute den Gang der Kirche in die Moderne.

Zunächst aber ging auch Pius den tradierten Weg. Er gab Gutachten in Auftrag, welche die Dogmatisierung der Lehre rechtfertigen sollten.

Die Argumentationen der zeitgenössischen Theologen fasst Hubert Wolf in seiner äusserst lesenswerten Pius-Biografie zusammen. Die Mehrheit befand nach wie vor: Die Unbefleckte Empfängnis könne nicht dogmatisiert werden.

Ein Traditionsbruch

Pius aber wollte das Dogma unbedingt – und beschloss dessen Verkündigung. Als erster Papst stellte Pius IX. damit das päpstliche Lehramt über die theologische Wirkungsgeschichte.

Pius IX. verkündete das Dogma allein aus päpstlicher Autorität.

Und er vollzog einen weiteren Bruch. Entgegen der Tradition liess er das neue Dogma nicht von einem Konzil absegnen. Der Papst lehnte sogar den Wunsch des Bischofs von Grenoble, Jacques Ginoulhiac (†1875), ab, dem Verkündigungsschreiben den Passus zuzufügen: «Der Episkopat hat der päpstlichen Entscheidung zugestimmt».

Geburt der päpstlichen Monarchie

Am 8. Dezember 1854 verkündete Pius das Dogma der Unbefleckten Empfängnis – aus päpstlicher Autorität.

Jacques Ginoulhiac (†1875) war Bischof von Grenoble. Er wollte die Zustimmung des Episkopats in die Verkündigungsbulle aufnehmen.
Jacques Ginoulhiac (†1875) war Bischof von Grenoble. Er wollte die Zustimmung des Episkopats in die Verkündigungsbulle aufnehmen.

Bei der Verkündigung im Petersdom waren 53 Kardinäle, 43 Erzbischöfe und 99 Bischöfe anwesend. Ihre Rolle war darauf begrenzt, Zeugen des päpstlichen Spektakels und des Beginns eines neuen Kirchenzeitalters zu sein: der Epoche der absoluten päpstlichen Monarchie, welche aus sich heraus Dogmen bestimmen konnte.

Nur ein Testballon?

Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf sieht in der Dogmatisierung des Volksglaubens nicht nur einen Ausdruck von Pius’ Marienverehrung. Vielmehr war das Dogma eine Möglichkeit, «seine Unfehlbarkeit praktisch auszuprobieren».

Die Hierarchie ist klar: Pius IX als direkter Nachfolger Petri, von göttlichem Licht erleuchtet. Bischöfe und Kirchenvolk hinter ihm kniend.
Die Hierarchie ist klar: Pius IX als direkter Nachfolger Petri, von göttlichem Licht erleuchtet. Bischöfe und Kirchenvolk hinter ihm kniend.

Nach dem Testballon «Unbefleckte Empfängnis» liess Pius IX. die päpstliche Unfehlbarkeit 1870 zum Dogma erheben.

Der grösste Traditionsbruch: die päpstliche Unfehlbarkeit

Dies war ein noch grösserer Traditionsbruch. Kein Kirchenvater, kein Kirchenlehrer hatte Päpste je für unfehlbar erklärt. Im Gegenteil. Die grossen Theologen des Mittelalters zogen durchaus die Möglichkeit in Betracht, dass ein Papst selbst der Häresie verfallen könnte.

Vielleicht weil der Bruch so gross war, liess Pius IX. seine Unfehlbarkeit doch von einem Konzil absegnen. Der «Unfehlbare» mag sich bei der Einberufung des Ersten Vatikanums gedacht haben: «Für irgendetwas müssen all die Kleriker ja noch zu gebrauchen sein.» Und wenn es nur zum Abnicken ist.


Unbefleckte Empfängnis von El Escorial | © wikimedia Commons/Public Domain, Public Domain
14. Mai 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!