Josef Annen in der Kirche St. Peter und Paul in Zürich.
Schweiz

Josef Annen: «Der Verhaltenskodex bringt eine Kulturänderung»

Josef Annen feiert sein 50stes Priesterjubiläum. Der Konflikt im Bistum Chur kostete ihn fast das Leben. Der 76-Jährige zog deshalb die Reissleine. Er trat als Generalvikar zurück. Im Bistum Chur «weht jetzt aber durch Bonnemain ein anderer Wind», sagt er.

Sarah Stutte

Von 2000 bis 2009 waren Sie Regens am Priesterseminar in Chur. Was wollten Sie als solcher dort erreichen?

Annen: Nach der Ära Wolfgang Haas war die Theologische Hochschule und auch das Priesterseminar im Jahr 2000 an einem toten Punkt. Es brauchte einen Neustart, weshalb ein Ausbildungskonzept erarbeitet wurde. Dazu gehörte auch die Schaffung eines interdiözesanen Propädeutikums zur Berufsklärung.

Meine Aufgabe als Regens war vor allem die menschliche Förderung der Priesteramtskandidaten sowie Pastoralassistenten. Wer in den kirchlichen Dienst treten will, muss zuerst ein guter Mensch sein. Dann kann er versuchen, ein guter Christ zu sein. Erst dann sollte er Priester werden. Wenn die Basis nicht stimmt, geht es nicht.

«Nach der Ära Huonder stehen wir wieder am Nullpunkt.»

Haben sie denn immer ein gutes Gefühl gehabt bei Ihren Kandidaten?
Annen: Irren kann man sich immer. Es ist schwierig, in das Innerste eines Menschen zu sehen. Es gab Entwicklungen, die mich enttäuscht haben und bei anderen war ich positiv überrascht. Wir können die Kandidaten nur ein Stück begleiten. Sie müssen ihren eigenen Weg finden.

Nach allem, was man heute weiss in Fällen von spirituellem und sexuellem Missbrauch: Müsste man die Ausbildung und das Priesteramt nicht ganz neu ausrichten?

Annen: Ja. Nach der Ära Vitus Huonder stehen wir wieder am Nullpunkt. Das klassische Priesterseminar gibt es nicht mehr. Heute kommen die Anwärter mitten aus dem Leben, was eine grosse Flexibilität der Ausbildungsstätten erfordert. Die Voraussetzungen, wenigstens personell, durch Bischof Bonnemain und Regens Daniel Krieg sind aber vielversprechend.

«Nur Klarheit und Wahrhaftigkeit bringt uns weiter.»

Und wie wirkt sich das Thema Missbrauch konkret aus?
Annen: Die Missbrauchsthematik hat sich auch nicht positiv auf die Nachfrage des Priesterberufs ausgewirkt. Das hält viele zurück, weil das eine Schande für unsere Kirche ist. Viel zu lange wurden hier, auch von den Verantwortlichen, die Opfer gar nicht gesehen. Doch nur Klarheit und Wahrhaftigkeit bringt uns weiter.

Die Herausforderung für junge Priester, diesen Weg zu gehen, ist heute sicher viel grösser. Sie werden weniger von der Gesellschaft, aber auch von der eigenen Kirche getragen, sondern eher infrage gestellt. Das braucht einen starken Willen.

Sie mussten das Regensamt abgeben, weil Sie Differenzen mit Bischof Vitus Huonder hatten…

Annen: Der Bischof mit mir, nicht umgekehrt. Ich passte nicht in sein Konzept. Schon als Generalvikar stellte er sich gegen die Neuausrichtung im Priesterseminar und an der Theologischen Hochschule Chur. Kaum war er als Bischof im Amt, hat er mich deshalb schnell nach Zürich als Generalvikar wegbefördert.

«Ich hatte einen Herzinfarkt und brauchte deshalb Ruhezeit.»

Als solcher standen Sie immer wieder in Konflikt mit Martin Grichting und dem Churer Machtzirkel. Im Oktober 2020 sind Sie dann zurückgetreten. Sie sprachen von Erschöpfung und haben sich im Tessin erholt.

Annen: Ich habe mit 75 Jahren ordnungsgemäss meinen Rücktritt eingereicht. Das war in der Zwischenzeit nach Huonder und vor Bonnemain. Der damalige Administrator Peter Bürcher nahm mein Gesuch im Juli jedoch nicht an. Gleichzeitig kamen in dieser Zeit nach Corona alle verschobenen Firmungen wie eine Lawine auf uns zu. Im Herbst wurde mir alles dann zu viel. Ich hatte einen Herzinfarkt und brauchte deshalb eine Ruhezeit.

Wie haben Sie den Konflikt mit dem Bischofsrat erlebt?

Annen: Es war sehr stressig. Man konnte nicht mehr diskutieren und so auch nicht zusammen arbeiten. Die verschiedenen Kirchenbilder von Grichting und Bürcher passten nicht zu dem, was ich für Zürich und Glarus verantworten konnte.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Annen: Gut, ich konnte mich erholen. Ich bin nicht nachtragend, sondern jemand, der die Schwierigkeiten schneller vergisst, als die positiven Erinnerungen. Es war aber gut, die Reissleine zu ziehen.

«Der Bischof kann keine Wunder bewirken, aber er versucht zu versöhnen.»

Weht im Bistum Chur nun ein anderer Wind mit Bischof Joseph Bonnemain?

Annen: Das ist wie Tag und Nacht im Vergleich zu früher. Jetzt herrscht ein gutes Miteinander. An und für sich ist es jedoch nichts Schlechtes, wenn es in der Kirche verschiedene Ansichten gibt und um den besseren Weg gerungen wird.

Denken Sie, Joseph Bonnemain kann wirklich zu einer Öffnung beitragen oder hat er am Ende nur die Rolle eines Vermittlers?

Annen: Der Bischof kann keine Wunder bewirken, doch er versucht zu versöhnen. Bonnemain hat stets – im Sinne von Papst Franziskus – die Armen und Marginalisierten im Blick. Die katholische Kirche könnte aber insgesamt noch entschiedener auftreten und mehr Verantwortung übernehmen, beispielsweise in der Klimakrise oder dem generellen Engagement in gesellschaftlich-sozialen Fragen.

Welche Bedeutung hat für Sie der Verhaltenskodex?

Annen: Als Generalvikar habe ich in der Anfangsphase noch am ersten Entwurf mitgearbeitet. Ich bin überzeugt davon, dass der Verhaltenskodex eine Kulturänderung mit sich bringt, aber das ist ein langer Prozess, bis wir anders miteinander umgehen als das in der Vergangenheit der Fall war.

«Grundhaltung, um gemeinsam auf dem Weg zu sein.»

Kann der Kodex der Kritik von konservativ-kirchlicher Seite standhalten und eine Veränderung bewirken?

Annen: Es ist ja kein Gesetzestext, sondern eine Grundhaltung. Man muss den Text nicht unterschreiben, aber sich dafür entscheiden, im Sinne des Verhaltenskodex gemeinsam auf dem Weg zu sein.

Wie sieht die Zukunft der Kirche aus?

Annen: Sie wird kleiner sein, an Finanzen und Gemeindemitgliedern. Aber ich hoffe nicht weniger engagiert und nicht weniger nahe bei den Menschen und ihren grossen Fragen nach dem woher und wohin im Leben und dem Auftrag, den wir füreinander haben.

*Der Priester Josef Annen hat das Bistum Chur jahrzehntelang geprägt. Geboren wurde er 1945 in Küssnacht am Rigi. Nach dem Studium in Theologie und Philosophie in Chur und Tübingen erfolgte 1973 die Priesterweihe. Es folgte ein Promotionsstudium in Münster. Danach war er Vikar und Jugendseelsorger in Winterthur und Zürich, 1987–2000 Pfarrer in St. Peter und Paul in Winterthur und 2000–2009 Regens am Priesterseminar in Chur. Von 2009 bis 2020 war Josef Annen Generalvikar für Zürich und Glarus. Am Sonntag feiert Josef Annen um 9.30 Uhr sein Goldenes Priesterjubiläum in der Kirche St. Peter und Paul in Zürich.


Josef Annen in der Kirche St. Peter und Paul in Zürich. | © Sarah Stutte
30. April 2023 | 09:30
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