Baustelle Kirche - Umbau der Kirche in Thalwil
Schweiz

«Säkularisierung 4.0»: Wie sieht die Kirche im Jahr 2045 aus?

Bis 2045 werden nur noch zehn Prozent der Bevölkerung im Kanton Zürich einer der grossen Konfessionen angehören. Das Christentum wird seine Leitfunktion einbüssen. Die Theologin Regula Grünenfelder macht konkrete Vorschläge. Die Kirchen sollten den Verlust der Deutungshoheit akzeptieren. Und die Zukunft mitgestalten.

Annalena Müller

1970 bekannten sich noch 94 Prozent der Bevölkerung des Kantons Zürich zu einer der grossen Konfessionen. Heute sind es noch knapp die Hälfte. 2045 werden es voraussichtlich nur noch zehn Prozent sein. Dies ist kein Zürcher Sonderfall, sondern europäische Tendenz. Die Kirchen stehen vor fundamentalen Verwerfungen. Im Auftrag der Zürcher Kantonalkirche hat die Theologin Regula Grünenfelder ein Diskussionspapier erstellt. Darin zeigt sie Wege auf, wie es weitergehen kann.

Leitreligion zieht sich zurück…

In 20 Jahren werden die grossen Konfessionen in der Minderheit sein. Die Gründe für die Entwicklung sind bekannt: Demographischer Wandel, Kirchenaustritte wegen Missbrauchsskandalen, Säkularisierung. Auch bekannt ist: Die Kirchen werden sich dazu verhalten müssen. Aufhalten können sie die «Megatrends, die gesamtgesellschaftlichen Umwandlungsprozesse» nicht. Dafür fehlt ihnen schlicht der Einfluss.

Regula Grünenfelder, Theologin, in der Paulus-Akademie
Regula Grünenfelder, Theologin, in der Paulus-Akademie

Es ist das erste Mal in der westlichen Geschichte, dass sich eine Leitreligion konkurrenzlos zurückzieht. Grünenfelder nennt das «Säkularisierung 4.0». Zurückbleiben werden kirchliche Räume und Monumente. Leere Kirchen und ausgestorbene Klöster. Diese Räume sollen aber auch in Zukunft genutzt werden. Denn, Grünenfelder ist sich sicher: Religion und Kirche werden auch künftig noch gebraucht. 

…und hinterlässt Lücken

«Im Strukturbruch der Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung werden Sinn und Verbundenheit (…) vermehrt in Shopping-malls, Sportpalästen, sozialen Bubbles» gesucht. Diese mögen kurzfristige Bedürfnisse befriedigen, aber sie können das Transzendentale nicht ersetzen. Das Resultat: «Einsamkeit und Desolidarisierung, Sinnverlust und Desorientierung nehmen zu.» 

Ungewisse Zukunft
Ungewisse Zukunft

Genau dort verortet Grünenfelder die Kernaufgabe der Kirchen von morgen. Kirche kann und soll Obdach bieten für «die transzendental Obdachlosen». Auch wenn noch unklar ist, wie «die Antwort auf die Säkularisierung 4.0 aussehen wird» – für die Theologin ist klar: In diesen Bereichen werden zahlreiche Lücken sein, «welche genuin in den Bereich der Religionen» gehören.  

Vertikale Ökumene – das Nachkommende mitgestalten

Grünenfelder schlägt vor, die «vertikale Ökumene» zum Massstab zu nehmen. Sie nennt beispielhaft den wertschätzenden Dialog mit den Vorläufern des modernen Christentums. Und fordert eine Offenheit gegenüber dem, was kommen wird. 

Sehnsucht nach Frieden: Ökumenisches Friedensgebet im Berner Münster.
Sehnsucht nach Frieden: Ökumenisches Friedensgebet im Berner Münster.

Allgemein formuliert: Vertikale Ökumene akzeptiert, dass Religion sich entwickelt und verändert. Grünenfelder sieht hier keinen «Verrat am Christentum». Denn auch das Christentum selbst konnte nur entstehen, indem es sich öffnete und veränderte.

Sich öffnen in der Umbruchsphase 

Die aktuelle Umbruchsphase ist der des frühen Christentums ähnlich. Die jüdischen Urchristinnen und Urchristen folgten einer Nischenreligion. Sie existierten in einer Umgebung, welche ihnen bestenfalls mit Unverständnis und Befremdung begegnete. In diesem Umfeld konnten sie nur durch Offenheit gegenüber dem Fremden, eben durch «vertikale Ökumene», bestehen.

Ökumene: Bischof Joseph Bonnemain und Michel Müller eröffnen 2021 an der Kirche in Hönng die Lange Nacht der Kirchen.
Ökumene: Bischof Joseph Bonnemain und Michel Müller eröffnen 2021 an der Kirche in Hönng die Lange Nacht der Kirchen.

Die grossen Konfessionen müssen akzeptieren, dass sie am «Ende ihrer Zeit als Leitreligion» angekommen sind. Anstelle sich selbstreferentiell in Grabenkämpfen zu zerfleischen, sollten sie Verantwortung übernehmen. Und «das zukünftige transzendentale Obdach» mitkreieren. Auch wenn es nicht mehr unter ihrer Aufsicht stehen wird.

Transkirchliche Ekklesiologie und lokale Kirchenlabore

Konkret schlägt Grünenfelder die Schaffung akademischer Fachgremien vor. Die Ekklesiologie könne das Ende der Leitreligion erforschen. Und herausfinden, «wie sich die grossen Konfessionen über sich selbst hinaus mitteilen können». In dieser Arbeit kämen auch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu anderen Weltgegenden zum Tragen. 

Arnd Bünker forscht in St. Gallen. Es brauche mehr Hands-on-Forschung, findet Regula Grünenfelder.
Arnd Bünker forscht in St. Gallen. Es brauche mehr Hands-on-Forschung, findet Regula Grünenfelder.

Ähnlich wie Hochschulen sich auf Materialprüfungen spezialisieren können, sollte eine theologische Fachhochschule ein «Hub für die interdisziplinäre, transkirchliche Forschung» werden. In der Schweiz fehlten «katholischerseits» institutionelle Strukturen, die «zusammen mit Verantwortlichen und Stakeholdern hands-on-Forschung» betreiben könnten.

Auch in Zukunft Obdach bieten

Hier sieht Grünenfelder Handlungspotential. Genau wie in der Schaffung von «Kirchenlabors». Leerstehende Pfarreien und Kirchen sollten aktiv genutzt werden. Theologinnen, Soziologen, Raumplanerinnen könnten diese als Arbeitsorte nutzen. Und mit Interessierten von Pfarrei und Quartier zusammenarbeiten. 

Ziel der Ekklesiologie und Kirchenlabore ist das gleiche: Nach dem Ende als Leitreligion, die Bedürfnisse und Ressourcen zu erkunden. Für die Zukunft des transzendental Obdachbietens.

Regula Grünenfelder: Kirche im Umbruch. Theologisches Diskussionspapier zur Ecoplan-Studie «Zukunft der Kirchenfinanzen. Katholischen Kirche im Kanton Zürich». Zug 2022.


Baustelle Kirche – Umbau der Kirche in Thalwil | © Sabine Zgraggen
22. März 2023 | 17:46
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