Martin Werlen und Benedikt XVI. am 6. August 2010.
Kommentar

Martin Werlen: Auch über Tote darf man Negatives sagen – aber auf gute Weise

Jahrzehntelang ist Joseph Ratzinger scharf kritisiert worden. Nach dem Tod Benedikts XVI. geben sich selbst Kritiker zahm und sanft. Das hat mit dem Sprichwort «De mortuis nil nise bene» zu tun. Martin Werlen weist auf einen Übersetzungsfehler hin. Man dürfe auch über Tote Negatives sagen – aber auf gute Weise.

Martin Werlen*

Von allen Menschen – uns selbst eingeschlossen – gibt’s nicht nur Gutes zu berichten. Damit tun wir uns schwer. Darüber stolpern wir auch immer wieder. Wir erzählen auch Schlechtes über andere. Und wenn es uns nicht gefällt, dass andere auch Schlechtes über einen verstorbenen Menschen erzählen, über den wir nichts Schlechtes hören wollen, nehmen wir gern eine Redewendung zu Hilfe: «De mortuis nil nisi bene.»

«Von den Toten nichts ausser auf gute Weise»

In der deutschen Sprache wird diese Redewendung oft übersetzt mit: «Von den Toten soll man nur Gutes reden.» Gerade das aber meint sie nicht. Würde man diese häufig gehörte Version zurück in die lateinische Sprache übersetzen, würde sie lauten: «De mortuis nullum nisi bonum.» Wenn man von den Toten nur Gutes sprechen könnte, wäre eine Geschichtsschreibung schlicht unmöglich. 

Erzbischof Georg Gänswein (l.), Präfekt des Päpstlichen Hauses, küsst die Hand des aufgebahrten Leichnams von Benedikt XVI.
Erzbischof Georg Gänswein (l.), Präfekt des Päpstlichen Hauses, küsst die Hand des aufgebahrten Leichnams von Benedikt XVI.

Richtig übersetzt bedeutet die Redewendung: «Von den Toten nichts ausser auf gute Weise.» Das lateinische Worte «bene» ist ein Adverb und kennzeichnet die Art des Sprechens. Also nicht voller Hass von den Toten sprechen, sondern ihnen in einer wohlwollenden Weise gerecht werden. Dass man nichts Unwahres von den Toten spricht, das ist für den vorsokratischen Autor eine Selbstverständlichkeit. 

«Ohne Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab»

Es geht darum, dass wir uns der Wahrheit stellen, soweit wir das können. Was Papst Benedikt XVI. in der Enzyklika «Caritas in veritate» sagt, soll uns leiten – auch im Umgang mit seinem Tod und der Würdigung seines Lebens: «Nur in der Wahrheit erstrahlt die Liebe und kann glaubwürdig gelebt werden. … Ohne Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab.» Und: «Ohne Wahrheit, ohne Vertrauen und Liebe gegenüber dem Wahren gibt es kein Gewissen und keine soziale Verantwortung.» 

Ein seltenes Bild aus der Konzilszeit: Joseph Ratzinger (ganz links) und Hans Küng (rechts).
Ein seltenes Bild aus der Konzilszeit: Joseph Ratzinger (ganz links) und Hans Küng (rechts).

Wahrheit ist dabei kein Abstraktum. Wir können nicht glaubwürdig von der Wahrheit predigen, die Christus selbst ist, und unsere Geschichte auf Unwahrheiten aufbauen. Hier trägt die Kirche auch heute noch eine starke Prägung aus dem 19. und 20. Jahrhundert. 

Wahrhaftigkeit lernen

Die Mitschwestern der heiligen Thérèse von Lisieux manipulierten die Biographie der Heiligen in bester Absicht. Allerdings haben sie gerade dadurch die Person nicht zum Leuchten, sondern zum Erblassen gebracht. Dasselbe geschieht auch im Umgang mit unseren Mitmenschen – lebenden und verstorbenen. Jede Manipulation – selbst in bester Absicht – trägt letztlich nicht zu mehr Leuchtkraft bei. Sie macht unglaubwürdig.

Im Umgang mit dem Tod des ehemaligen Papstes und seiner Geschichte können wir Wahrhaftigkeit lernen.

Martin Werlen
Martin Werlen

Der Benediktiner Martin Werlen (60) war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters Einsiedeln und des Klosters Fahr. Seit 2020 steht er der Propstei St. Gerold im Grossen Walsertal in Vorarlberg vor. Er hat im Januar 2022 Benedikt XVI. für die Vertuschung im Münchner Missbrauchsskandal scharf kritisiert.


Martin Werlen und Benedikt XVI. am 6. August 2010. | © zVg
3. Januar 2023 | 12:02
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