Nicolas Betticher war bis 2011 Generalvikar des Bistums LGF.
Schweiz

Nicolas Betticher: «Praedicate Evangelium» ist keine Revolution, hat aber Potential»

Wie ist die Kurienreform von Papst Franziskus zu bewerten? Sie geht in die richtige Richtung, findet der Kirchenrechtler Nicolas Betticher. Wegweisende Veränderungen müssten aber von einem Konzil kommen. Trotzdem könnten die Schweizer Bischöfe schon jetzt vorwärts machen.

Raphael Rauch

Der Luzerner Kirchenrechtler Adrian Loretan wertet die Kurienreform von Papst Franziskus als «Revolution». Und Sie?

Nicolas Betticher*: Es ist für mich keine Revolution, aber eine gute Evolution. Alle Dikasterien arbeiten weiterhin für den Papst, der die Letztverantwortung trägt und alle wichtigen Entscheidungen trifft. Auf den ersten Blick ist da nicht viel Neues dabei. Es sei denn: Wenn tatsächlich Laien, Frauen und Männer, Chefs von Dikasterien werden und somit zum «päpstlichen Rat» gehören, so könnte man sich vorstellen, dass diese einen grossen Einfluss in der Kurie haben werden. Und hier sehe ich das Brisante an diesem Dokument.

Was ist daran brisant?

Betticher: Nehmen wir an, der Papst ruft einen Ministerrat ins Leben. Dieser besteht aus allen Dikasterienchefs. Dann sitzen in diesem Ministerrat künftig Kardinäle, Bischöfe, Priester, Diakone und Laien, Frauen und Männer. Durch diese Vielfalt kann eine neue Dynamik entstehen. Männer und Frauen, geweihte und nicht-geweihte Menschen sprechen zusammen und beraten den Papst.

«Ein Drittes Vatikanisches Konzil könnte zu einer echten Gewaltenteilung führen.»

Wozu könnte diese neue Dynamik führen?

Betticher: Aus dieser Dynamik könnte dann eine Überzeugung entstehen, dass man die Ämter splitten könnte, sprich: ein Bischof ist nicht mehr Exekutive, Legislative und Judikative in Personalunion, sondern überträgt zum Beispiel einer Frau die Exekutive oder die Judikative. Ein Drittes Vatikanisches Konzil könnte zu einer echten Gewaltenteilung führen. Denn es braucht ja ein Konzil, um die Munera (drei Ämter Christi: Priesteramt, Lehramt, Hirtenamt, Anm.d.Red.) zu splitten.

Warum braucht es dafür ein Konzil? Ein Papst kann doch auch ohne Konzil alles entscheiden.

Betticher: Ja, das kann der Papst. Aber es ist immer besser, wenn eine wichtige Entscheidung von vielen getragen wird. Und ein Konzil lässt viel Platz für Gespräche. Eben dies wünscht sich Papst Franziskus. Ich wünsche mir ein Konzil bestehend aus Frauen und Männern, geweihten und nichtgeweihten Christen.

«Ein Leitungsamt ohne Entscheidungsvollmacht ist noch zu wenig.»

Nochmals zurück zur Revolutionsthese, von der Sie wenig halten: Warum ist es keine Revolution, wenn eine Frau künftig die Glaubenskongregation oder das Staatssekretariat leitet?

Betticher: Wenn Laien keine Entscheidungen treffen können, ist das noch keine eigentliche Revolution. Aber nochmals: es ist ein erster guter Schritt.

Wird hier nicht zwischen Weihe- und Leitungsamt unterschieden, was viele Reformkatholikinnen und Reformkatholiken ja fordern?

Betticher: Ja, aber ein Leitungsamt ohne Entscheidungsvollmacht ist noch zu wenig. Gemäss Kirchenrecht bleibt die Entscheidungsbefugnis allein beim Papst. Hier hat sich also nicht viel bewegt.

Geht aus Ihrer Sicht das Papier in die richtige Richtung – auch wenn es nicht radikal genug ist?

Betticher: Ich denke, der Papst sucht sich eine Mehrheit in der Kurie, die eine Öffnung anstrebt. Alleine kann er dies nicht. Und das ist für mich der Kern dieses Dokumentes. Ein Nachfolger auf dem Petrusstuhl kann dann weitere Schritte tun.

«Die Bischöfe könnten aufgrund einer Notlage eine Notlösung beschliessen.»

Was bedeutet das Papier für die Schweizer Bistümer?

Betticher: Bei «Praedicate Evangelium» geht es um die Kurie – nicht um das Bistum Rom. Trotzdem kann man von «Praedicate Evangelium» Analogien zu den Bistümern ziehen. Die meisten Ordinariate haben bereits Frauen und Männer in Leitungsaufgaben. Aber die Entscheidungsgewalt liegt immer beim Bischof – wie in der Kurie beim Papst.

Was könnten die Schweizer Bischöfe konkret tun angesichts von «Praedicate Evangelium»?

Betticher: Ein allgemeines Ämter-Splitting ist zurzeit nicht möglich wegen des bestehenden Kirchenrechts. Aber die Bischöfe könnten aufgrund einer Notlage eine Notlösung beschliessen – wegen der Machtmissbräuche. Sie könnten beschliessen, ein unabhängiges Gericht zu errichten, das dann frei entscheidet. So könnte man mit der Gewaltenteilung bereits jetzt beginnen, indem man die Judikative von der Verantwortung der Bischöfe loslöst. Und das Notrecht würde somit zum Partikularrecht.

* Nicolas Betticher ist Pfarrer von Bruder Klaus in Bern. Von 1995 bis 2000 war er Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz. Danach war der CVP-Politiker ein halbes Jahr Mitarbeiter von Bundesrätin Ruth Metzler. Im Juli 2001 wurde der Laientheologe Kanzler des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg. 2007 wurde er zum Priester geweiht und Offizial. Von 2009 bis 2010 war er Generalvikar. Anschliessend ging Betticher nach Bern als Sekretär der Nuntiatur und war als Priester im Pastoralraum Bern tätig. Seit 2015 ist er Pfarrer und Pfarreileiter von Bruder Klaus in Bern. Seit Ende 2020 ist er im Bistum Basel inkardiniert.


Nicolas Betticher war bis 2011 Generalvikar des Bistums LGF. | © Raphael Rauch
30. März 2022 | 14:59
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