Flüchtlinge
Schweiz

Fröhliche Weihnachten an der Schwelle zur Ausschaffungshaft

Muotathal SZ, 28.12.16 (kath.ch) Mitten im Innerschweizer Nirgendwo, am Eingang zum Muotathal, wird die Weihnachtsgeschichte neu geschrieben: Im zerfallenden Asylzentrum Grünenwald feiern Flüchtlinge aus Nah- und Fernost und ihre Betreuerinnen ein Weihnachtsfest voller Freude und Hoffnung. Auch wenn nächstens wieder die Polizei vorfahren könnte.

Remo Wiegand

Abgeschiedenheit ist ein zu schwacher Begriff für den Ort, an dem das Asylzentrum Grünenwald liegt. Wir sind ein paar Kilometer von Schwyz entfernt, eingeschlossen von Bergwänden, es ist neblig, saukalt, richtig grusig. Noch bevor wir die Hochebene des Muotathals erreichen, die – man kann es erahnen – über der Nebeldecke liegt, müssen wir anhalten. Hier, am Eingang zum «Tal des Schattens» (Blick), steht das ehemalige Hotel Grünenwald, das seit rund 20 Jahren als kantonale Asylunterkunft dient. Ein wüster Klotz, vielerorts blättert der Putz ab. Auf dem Briefkasten des Nachbarshauses prangt ein grosser Kleber mit der Aufschrift «Jetzt SVP wählen». Es scheint, als würde hier alles dafür getan, Flüchtlinge möglichst rasch wieder aus der Schweiz zu vertreiben.

Warmherzig wie im Familienhotel

Dann gelangt man ins Innere. Ein hell erleuchteter Aufenthaltsraum. Flüchtlinge üben Weihnachtslieder. Ein Hund kommt wedelnd heran und beschnuppert die Besucher. Freundliche Angestellte vermitteln eine Gastfreundschaft und Wärme, als ob der Grünenwald immer noch ein Familienhotel zum Wohlfühlen wäre. Alle fünf Betreuerinnen und der eine Betreuer der Caritas Schweiz sind zur heutigen Weihnachtsfeier da – nur die Chefin, die interimistisch noch ein zweites Asylzentrum leitet, fehlt. Derweil bewohnen 17 junge Männer zurzeit das Heim, sie sind aus Sri Lanka, Eritrea, Afghanistan, Iran und dem Südsudan. Eigentlich hätten hier 45 Personen Platz, der Grünenwald ist unterbelegt. Der Flüchtlingsstrom hat abgenommen. Ob das Asylzentrum überhaupt weitergeführt wird, ist derzeit unklar.

Trostlose Umgebung, unsichere Zukunft für die Angestellten – für die Flüchtlinge sowieso. In ihrer Zeit hier absolvieren die Migranten oft das zweite, entscheidende Gespräch mit den Verantwortlichen des Staatssekretariats für Migration (SEM). Die Nervosität ist entsprechend gross. Weitgehend ohne Chance auf Asyl sind Flüchtlinge, die aus einem anderen europäischen Land (meistens aus Italien oder Deutschland) in die Schweiz eingereist sind. «Manchmal fährt frühmorgens die Polizei hier vor und holt die Asylsuchenden ab», berichtet Betreuerin Sarah Kiener. «Das ist schon heftig.» Mittlerweile würden diese so genannten «Dublin-Fälle» nach dem Gespräch mit den Behörden meist gar nicht mehr zurück in den Grünenwald gelassen, sie wanderten bei begründeter Untertauchgefahr direkt in Ausschaffungshaft. «Uns bleibt dann nur noch, den ehemaligen Bewohnern die wenigen Habseligkeiten vorbeizubringen», so Kiener.

Singen aus voller Kehle

In diesem dauerhaften Ausnahmezustand spielt sich im Grünenwald Weihnachten ab. Der Tisch ist gedeckt mit Mandarinen und selbstgemachten Guetzli. Ein Weihnachtsbäumchen steht da. An der Decke hängt noch die Deko vom vergangenen 1. August mit Schweizer- und anderen Fahnen und Sätzen wie «Thanks to great people of Swiss». Auch das passt zum völkerverbindenden Friedensfest. Sarah Kiener eröffnet die Feier, die anfangs auch eine kleine Lehrveranstaltung ist. «Wie feiert ihr bei Euch zuhause Weihnachten?», fragt sie auf Englisch in die internationale Runde. Ländervertreter erzählen angeregt von kunterbunten Familienpartys (Sri Lanka), von Papa Natale, der in der Nacht vor dem orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar auf Besuch komme (Eritrea) oder von den grossen Festessen nach dem Ramadan, das Weihnachtsgepflogenheiten gleicht (Afghanistan).

Dann wird gesungen. Zunächst «Stille Nacht», dann «Jingle Bells» und zum krönenden Abschluss der berndeutsche Weihnachts-Schlager «Chumm, mir wei es Liecht azünde». Die jungen Männer singen tatsächlich aus voller Kehle, unterstützt von den Betreuerinnen und einem einheimischen Gast mit Gitarre. Die Lieder waren zuvor im Deutschunterricht thematisiert und eingeübt worden – erfolgreich.

Israel wollte ihn zurückschaffen

Nach dem Pflichtteil folgt die Kür: Zwei Flüchtlinge schnellen auf und holen heissen Punsch aus der Küche. Es wird getrunken und gegessen. Erinnerungsfotos werden geschossen. Spontan erklingen musikalische Zugaben, ein Weihnachtslied auf Tamilisch, «Hemmige» auf Schweizerdeutsch. Es sind wirklich fröhliche Weihnachten im Wohnzimmer des Grünenwalds. Die Pausen der Nachdenklichkeit spielen sich anderswo ab: Ab und an verkriecht sich ein Flüchtling für eine Zigarette in den Nebel auf die Terrasse. Oder in sein Smartphone.

Issouf Taha* liest regelmässig Nachrichten aus seiner südsudanischen Heimat. Der anglikanische Christ floh, weil er angeklagt worden war, Muslime zu missionieren. Zehn Jahre lebte Taha darauf in Israel, seit einem Monat ist er in der Schweiz. Nach der Gründung des südsudanesischen Staates, der den Christen ein Leben in Frieden ermöglichen sollte, wollte ihn Israel zurückschaffen. «Doch in Südsudan herrscht kein Friede», beklagt Taha. «Nach der Gründung des Südsudans schlagen sich nun die neuen Machthaber gegenseitig die Köpfe ein.» Seine Wünsche für Weihnachten? «Hope, new life, happy», sagt der 34-jährige. Er lacht ein langsames, herzliches Lachen.

Grosse Hoffnungen, vage Chancen

Taha ist nach eigenen Angaben von der UNHCR als Flüchtling anerkannt. Wenn dies zutrifft, sind seine Asylchancen besser als jene vieler anderer hier. Flüchtlinge aus Sri Lanka, wo die Tamilen gegenüber der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit diskriminiert werden, schiebt die Schweiz in den allermeisten Fällen wieder ab. Die Chancen von Afghanen oder Iranern sind nur leicht besser. Ob Aamun Jawed*, offiziell 18 Jahre alt, die Behörden überzeugen kann, nicht aus wirtschaftlicher, sondern aus humanitärer Not seine halbjährige Reise in die Schweiz auf sich genommen zu haben? Er strahlt Zuversicht aus, Zweifeln lässt er keinen Raum. «Ich möchte hier in Frieden leben. In Afghanistan hat das Leben keinen Wert», sagt Aamun. Charmant lobt der Muslim die Weihnachtsfeier, findet das Fest wundervoll, es mache die Menschen glücklich. Gleichzeitig fragt man sich, ob Jawed wie so viele auch untertauchen würde, sollte er einen ablehnenden Asylentscheid erhalten und nicht direkt ins Ausschaffungsgefängnis wandern.

Es sind Fälle wie diese, die auch Sarah Kiener in eine Spannung bringen. Grosse Hoffnungen, vage Chancen. «Manchmal ist unsere Rolle hier auch, den Flüchtlingen die Realität in der Schweiz aufzuzeigen, um Enttäuschungen vorzubeugen», sagt Kiener. Vor allem aber sieht sie ihre Aufgabe darin, die Migranten während ihres drei- bis sechsmonatigen Aufenthalts human zu behandeln. Kiener, die Sprachwissenschaften studiert hat und unter anderem Arabisch spricht, erteilt täglich vier Unterrichtslektionen Deutsch. Sie und ihre Kolleginnen kreieren Beschäftigungsprogramme, das Weihnachtsfest und die Vorbereitungen gehörten da durchaus auch dazu. Aber nicht nur. «Es ist mir schon auch persönlich ein Anliegen, den Flüchtlingen unsere Feste und Werte zu vermitteln», sagt Kiener, deren Mutter Pfarrerin ist.

Ein Licht im Tal des Schattens

Zeit zum Gehen. Hund Nando spult noch einmal sein rührseliges Programm ab, stupst die Nase ins Bein und gibt Pfötchen. Die Flüchtlinge verabschieden sich höflich bis ausgelassen: Auf Wiedersehen und frohe Weihnachten! Draussen ist es weiter neblig und zusehends dunkel. Doch im Tal des Schattens brennt noch Licht.

* Namen der Flüchtlinge geändert

Flüchtlinge | © Remo Wiegand
28. Dezember 2016 | 14:48
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