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Schweiz

Weihnachten und Flucht «Jenseits von idyllischer Krippenromantik»

Luzern, 24.12.16 (kath.ch) «Die Geschichte von Weihnachten ist ein Skandal», meint Robert Vorholt, Professor für Neues Testament an der Universität Luzern: Diese Botschaft sei gerade angesichts des heutigen Flüchtlingsdramas aktueller denn je.

Benno Bühlmann

Herr Professor Vorholt, beim Stichwort «Weihnachten» denken viele Zeitgenossen an schöne Krippenspiele und Hirtenidylle. Anders klingt das allerdings in Ihrem neuen Buch, das der Aktualität der Weihnachtsbotschaft nachgeht: «So schön das Weihnachtsfest ist – die Geschichte ist ein Skandal», heisst es dort. Wie kommen Sie zu dieser Feststellung?

Robert Vorholt: Diese Feststellung hat auf der einen Seite mit einer sorgfältigen Analyse der biblischen Texte zu tun und auf der anderen Seite einer Analyse dessen, was sich gegenwärtig in unserer Welt zuträgt. Ich sehe da eine Verbindungslinie: Dass nämlich die Weihnachtsgeschichte eben gerade nicht so idyllisch und kitschig ist, wie sie oft und gerne dargestellt und wahrgenommen wird, sondern dass schon die Weihnachtsgeschichte brisante politische Fragen aufwirft wie: Was ist der Mensch und was ist Menschenwürde? Und wie wird Menschenwürde von den Anfängen an in Frage gestellt? Das sind die elementaren Fragen, die sich vom Neuen Testament her stellen und die heute aktueller sind denn je.

Vor ein paar Jahren war in einer Kirche neben der Krippe der folgende Spruch zu lesen: «Bei einer Weihnachtskrippe ohne Araber, Afrikaner, Juden und Flüchtlinge bleiben nur noch Ochs und Esel übrig.» Was meinen Sie zu diesem Satz, mit dem der Pfarrer die Gottesdienstbesucher zum Nachdenken anregen wollte?

Vorholt: Ich glaube tatsächlich, dass uns die Weihnachtsgeschichten vor einer Banalisierung ihrer Inhalte warnen. Es geht nicht darum, uns in den Schlaf zu wiegen, vielmehr sollen wir wach werden für die Fragen, die sich aus dem Zusammenleben der Menschen ergeben.

Auch aus dieser Frageperspektive ergibt sich, dass wir es hier mit Flüchtlingsliteratur zu tun haben

Der bereits erwähnte Spruch verweist insbesondere auf die aktuelle Flüchtlingsthematik, die wohl untrennbar mit der Weihnachtsgeschichte verbunden ist…

Vorholt: In der Tat wird in der Weihnachts-geschichte erzählt, dass Jesus nicht in einem Fünf-Sterne-Hotel zur Welt kam, sondern unter schwierigsten Bedingungen unterwegs, mitunter auf der Flucht. Gerade im Matthäus-Evangelium kommt der Erzählung von der Flucht Jesu nach Ägypten eine zentrale Rolle zu: Die Heimatlosigkeit und die Suche nach einer Bleibe in existenzieller Not sind wichtige Themen, die in diese Texte eingetragen sind. Ausserdem müssen wir natürlich auch fragen: In welcher Situation sind diese Texte entstanden und wer hat sie geschrieben? – Auch aus dieser Frageperspektive ergibt sich, dass wir es hier mit Flüchtlingsliteratur zu tun haben. Es handelte sich um Gemeinden, die selbst in Not geraten waren, weil sie vertrieben wurden und eine neue Heimat suchen mussten. Und in dieser Situation waren sie dringend auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen.

Erzählungen über die Geburt Jesu finden wir bekanntlich nur bei zwei der vier Evangelisten: Matthäus und Lukas. Was lässt sich heute über den historischen Hintergrund dieser Geschichten sagen?

Klar ist, dass nicht die Geschichte eines Superstars erzählt wird, sondern die Geschichte eines Menschen, in dem Gott zugegen ist

Vorholt: Die historische Rückfrage nach der Kindheit Jesu ist schwierig, weil die Jesusgeschichte gewissermassen von «hinten», also von Ostern her erzählt wird. In historischer Hinsicht bleibt damit vieles offen: Hat es damals beispielsweise eine Volkszählung und den Kindermord von Bethlehem gegeben? Ist Bethlehem oder Nazareth als Geburtsort denkbar? Und was hat es mit dem Stern von Bethlehem auf sich? – Das sind Fragen, die heute in der Forschung immer noch kontrovers diskutiert werden und mit einem wissenschaftlichen Abstand betrachtet und untersucht werden müssen.

Falls die Geburt Jesu tatsächlich zur Zeit von König Herodes stattgefunden hat, wie bei Matthäus zu lesen ist, müsste diese spätestens um 4 vor Christus datiert werden…

Vorholt: Es ist davon auszugehen, dass Herodes zwischen 6 und 4 vor Christus gestorben ist. Heute wissen wir, dass sich bei der Etablierung des christlichen Kalenders tatsächlich ein Rechenfehler eingeschlichen hat. Aber wir müssen insgesamt aushalten, dass wir mit Blick auf die Anfänge der Lebensgeschichte Jesu nur wenige griffige Daten zur Verfügung haben. Das heisst nicht zwingend, dass alles falsch ist, aber es fehlt uns das Quellenmaterial, um die historischen Eckdaten zweifelsfrei absichern zu können.

Jesus kommt in der Kleinfamilie zur Welt und nicht in der Sippe, was damals normal gewesen wäre

Es gibt Astronomen, die den so genannten «Stern von Bethlehem» mit einem aussergewöhnlichen Phänomen in Verbindung bringen. Im Jahr 7 vor Christus könne eine grosse Konjunktion von Jupiter und Saturn im Sternzeichen der Fische nachgewiesen werden. Was sagen Sie zu dieser naturwissenschaftlichen Erklärung?

Vorholt: Wenn uns die Astronomie aussergewöhnliche Sternenkonstellationen der damaligen Zeit erklärt, so finde ich das zunächst einmal hochinteressant. Ich glaube aber nicht, dass dem Verfasser des Matthäus-Evangeliums im Wesentlichen daran gelegen war, Sternbilder zu beschreiben. Die Geburtserzählung ist kein naturwissenschaftlicher Bericht, sondern will mit dem Motiv des Sterns seine richtungsweisende Funktion zum Ausdruck bringen und damit das Leben Jesu deuten.

Worauf zielt diese theologische Deutung ab?

Vorholt: Klar ist für mich, dass in der theologischen Perspektive von Matthäus und Lukas nicht die Geschichte eines Superstars erzählt wird, sondern die Geschichte eines Menschen, in dem Gott zugegen ist. Bemerkenswert ist dabei, dass schon der Anfang der Jesusgeschichte vor dem Hintergrund der damaligen Gesellschaft alles andere als konform ist: Jesus kommt in der Kleinfamilie zur Welt und nicht in der Sippe, was damals normal gewesen wäre. Damit wird bereits die Gebrochenheit der Familienstrukturen skizziert.

Aussergewöhnlich ist auch der Umstand, dass ein Elternpaar kurz vor der Geburt ihres Kindes von Nazareth nach Bethlehem reist. Wäre eine solche Reise für eine hochschwangere Frau damals überhaupt denkbar und zumutbar gewesen?

So ist es eigentlich auch nicht zumutbar, dass schwangere Frauen auf ihrer Flucht in einem Boot übers Mittelmeer fahren müssen

Vorholt: Eine solche Reise ist – damals wie heute – kaum zumutbar, und trotzdem kommen solche Ereignisse immer wieder vor. So ist es eigentlich auch nicht zumutbar, dass schwangere Frauen auf ihrer Flucht in einem Boot übers Mittelmeer fahren müssen – und dennoch ist das heute bittere Realität! Mit diesem Aktualitätsbezug verdeutlicht sich ja auch die ungeheure Dramatik, die in der Geburtserzählung Jesu enthalten ist.

«Geboren von der Jungfrau Maria…» ist ebenfalls ein Passus der Geburtserzählung, der immer wieder zu Diskussionen Anlass gegeben hat…

Vorholt: Es handelt sich dabei um ein Motiv aus dem Alten Testament, zu dem es zwei sprachliche Varianten gibt. Der hebräische Text spricht von einer «jungen Frau», die griechische Übersetzung von einer «Jungfrau». Die Evangelisten Matthäus und Lukas kannten beide Text und entschieden sich interessanterweise für die griechische Übersetzung. Damit haben sie natürlich eine Aussage getroffen, allerdings keine medizinisch-biologische, sondern eine theologische Aussage. Eine Aussage, die wir heute in ihrem Stellenwert schwer rekonstruieren können, weil sich unsere Fragen über 2000 Jahre hinweg verändert haben. Aber im damaligen hellenistischen Kontext war dies eine wichtige Frage: Unter welchen Voraussetzungen ist es überhaupt möglich, dass Gott in die Welt der Menschen kommt? – In diesen hellenistischen Kontexten bewegt sich auch Lukas. Und er beantwortet diese Frage sozusagen auf der Ebene der Populärphilosophie mit dem Motiv der Jungfrauengeburt – aber schon damals nicht in einem biologisch-medizinischen, sondern im philosophisch-theologischen Sinne.

Zur Person: Dr. Robert Vorholt ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Das Flüchtlingskind in Gottes Hand von Thomas Söding und Robert Vorholt ist in Patmos-Verlag erschienen.

Schlafstatt Obdachloser in Berlin | © Georges Scherrer
24. Dezember 2016 | 10:44
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