Neuzuzüger im Pfarreiheim in Hochdorf
Schweiz

Und plötzlich fragt der Flüchtling: «Kannst du mir helfen?»

Luzern, 16.6.16 (kath.ch) Im Kanton Luzern leisten viele kleine Gruppen grosse Arbeit für Migranten. Weshalb braucht es dazu noch die kantonsübergreifende «Aktionswoche Asyl»? Vielleicht, um Menschen zu aktivieren, die sich lieber raushalten. Menschen wie mich. Eine Reportage aus Hochdorf im Luzerner Seetal.

Remo Wiegand

«Kannst Du mir helfen?» Oh nein, das war so nicht vorgesehen. Bisher konnte sich der Schreibende erfolgreich hinter seiner Rolle als Journalist verstecken. Die Kamera verlieh ihm die Aura des Vielbeschäftigten, diente als bequemes «Bitte nicht stören!»-Schild. Am Ende des «Begegnungsabends» im Pfarreizentrum B in Hochdorf passiert es dann doch: Eine Begegnung ohne Schutzschild. «Kannst Du mir helfen?», radebrecht der junge Matheus aus Eritrea, nach kurzem Smalltalk zur Qualität des Mineralwassers mit Himbeergeschmack. Er teilt mit fünf Landsleuten eine Wohnung in Kleinwangen. Jetzt sucht er ein neues Zuhause, sucht Aussenkontakt, will unbedingt sein schlechtes Deutsch verbessern. Kann ich ihm helfen? Vielleicht, ich weiss nicht, sollte ich?

Nüchtern-professionell

Der Abend hatte so richtig schön schweizerisch begonnen. Ein nüchterner Pfarreiheim-Saal in Hochdorf, der Apero und die Power-Point-Präsentation sind pünktlich angerichtet, eine kleine Innovation steht an: «Bisher haben wir immer alle Neuzuzüger der Gemeinde zusammen eingeladen und gehofft, dass sich da eine Vernetzung ergibt. Das hat nicht geklappt. Deshalb laden wir jetzt die neu zugezogenen Migranten separat ein.»

Daniel Rüttimann, umtriebiger Hochdorfer Sozialvorsteher, ist der Vater des separaten Neuzuzüger-Abends. Er verknüpft ihn heuer mit dem bereits traditionellen Begegnungsabend des Vereins «Brückenschlag», der im Auftrag der Gemeinde Migrations- und Integrationsarbeit leistet. 25 Migranten und Migrantinnen erscheinen im Pfarreiheim, rund zwei Drittel der Angeschriebenen. Es sind entweder Asylbewerber (N-Ausweis) oder vorläufig in der Schweiz Aufgenommene (F-Ausweis), in der Mehrzahl aus Eritrea und Syrien, meist männlich.

Nach dem mehrheitlich höflich ignorierten Apero – die Muslime begehen den Fastenmonat Ramadan – folgt die Rede zur Lage von Dorf und Region. Die Ortskundigen vermitteln Fakten zur 10’000-Seelen-Gemeinde, zu Schule, Ludothek und Feuerwehr – alles mit wohl dosiertem Lokalstolz. Fragen? «Was sollen wir Eltern tun, wenn die Kinder in der Schule sind?» «Können Sie mehr Übersetzer organisieren?» «Was ist das, die Braui?» Die anwesenden Dorf-Autoritäten nicken und signalisieren ein professionelles «Wir kümmern uns darum» oder «Das sehen sie dann». Sie suchen, wir finden – jedem das Seine.

Pilgerreise der Begegnung

Dann kommt Bewegung in das noch eher phlegmatische Grüppchen, der Dorfspaziergang steht an. Man beginnt sich zu unterhalten, kommt sich gehend etwas näher. Ein Junge aus Sri Lanka flitzt auf seinem Trottinett zwischen den Beinen der Bewegten hindurch – so als ob er die die verschiedenen Völker miteinander verwickeln möchte. Aamry, der mit seinen Eltern seit fünf Monaten in der Schweiz weilt und in die zweite Primarschulklasse geht, trägt stolz ein Schweizer Fussball-Käppi. «Als ich noch in Sri Lanka war, im WM-Achtelfinal, unterstützten alle die Schweiz», erzählt er sprudelnd. Und wer ist dein Schweizer Lieblingsspieler, Aamry? «Brasilien!»

Die Stimmung wird gelöster, Sprüche fallen, Lachen. Vom einen oder anderen erfährt man, woher er kommt, ein mehrsprachiger, syrischer Kurde arbeitete früher als Lehrer, jetzt im Kebab-Imbiss. Small-Talk mit Migranten. Für die grossen Fragen (»Was hat Sie in die Flucht getrieben? Was tun Sie hier? Was sind ihre Wünsche und Ziele?») scheint heute nicht der richtige Zeitpunkt.

Der Tross wandert über die reformierte Kirche, das Rathaus, den Bahnhof, das Kulturzentrum Braui (die ehemalige Brauerei) hin zur katholischen Kirche. Keinerlei Berührungsängste: Männer, Frauen, Kinder bestaunen wie neugierige Touristen Glanz und Gloria der barocken Kirche, fotografieren, betreten ungeniert den Altarraum, alles unter den nachsichtigen Augen von Pfarrer Roland Häfliger. Wieder draussen, auf dem Friedhof, wirken Flüchtlinge wie Schweizer nun zusehends wie eine erwartungsfrohe Pilgergemeinschaft, die schliesslich am ersehnten Ziel ankommt: Pfarreizentrum B, Begegnungsabend.

Hier treffen die Neuzuzüger auf nochmals etwa dreissig Migranten, deren Zuhause schon länger hier liegt. Neugierige Augen erwarten sie, dazu ein reichhaltiges Buffet. Und dann erschallt plötzlich diese orientalische Musik. Kurden animieren Kreistänze, deren integrierender Kraft sich kaum jemand entziehen kann, kein Eritreer, keine Somali, keine Gemeindepräsidentin, kein Pfarrer. Ansätze heiterer Ausgelassenheit, von Migranten gemacht, erschüttern Hochdorf.

Traurige Augen

Und dann ist da Matheus. Nicht der einzige, der hinter einer heiteren Fassade grosse Fragen verbirgt. Ein höflicher, scheuer junger Mann, «auch nach zwei Jahren in der Schweiz nicht wirklich hier angekommen», erzählt Priska Ineichen vom Verein «Brückenschlag» später. Auf seine unvermittelte Frage hin, ob ich ihm bei der Wohnungssuche helfen könne, verweise ich auf professionelle Institutionen, schreibe www.wg-zimmer.ch auf meine Visitenkarte. Matheus fragt, ob ich «What’s up» habe (habe ich nicht), ich sage ihm beiläufig, er könne mich bei weiteren Fragen anrufen. Ich sehe es in seinen traurigen Augen: Er wird es nicht tun.

Zuhause fasse ich den Entschluss: Ja, ich werde Matheus kontaktieren. Er braucht jemand, mit dem er deutsch sprechen kann. Ich kann helfen – warum sollte ich es nicht tun? (rew)

Neuzuzüger im Pfarreiheim in Hochdorf | © Remo Wiegand
16. Juni 2016 | 17:02
Lesezeit: ca. 3 Min.
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Aktionswoche Asyl

Unter dem Motto «Hand reichen – Fuss fassen» findet im Kanton Luzern noch bis am Sonntag die Aktionswoche Asyl statt. Über 80 lokale Projekte und Veranstaltungen stehen auf dem Programm, darunter internationale Buffets, Offenes Singen oder auch ein Lauftraining mit einer äthiopischen Marathonläuferin. Initianten der Aktionswoche, die zum dritten Mal stattfindet, sind der Kanton und die drei Landeskirchen. Mitgetragen wird sie von Organisationen wie der Caritas, dem Arbeiterhilfswerk (SAH) und der Islamischen Gemeinde Luzern. (rw)

http://www.lu.ch/verwaltung/GSD/gsd_projekte_themen/Aktionswoche_Asyl/Projekte_2016