Reinhard Schulze, Islamwissenschaftler
Schweiz

Islamwissenschafter: «Bischof Gürbüz schliesst sich populistischen Verschwörungstheorien an»

Bern, 15.4.16 (kath.ch) Isa Gürbüz, das syrisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt in der Schweiz, warnte in einem Artikel des «Tages-Anzeiger» (14. April): Die Agenda des Islam sei es, Christen aus dem Nahen Osten zu vertreiben und in Europa die Macht zu übernehmen. Diese Annahme sei absurd, entgegnet Islamwissenschafter Reinhard Schulze im Gespräch mit kath.ch. Schulze ist Professor am Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universität Bern.

Barbara Ludwig

Isa Gürbüz befürchtet, in rund dreissig Jahren würden die Muslime in Europa die Mehrheit der Bevölkerung stellen und die Hälfte der europäischen Frauen würde dann einen Hijab tragen. Ist ein solches Szenario – auch angesichts der aktuellen Fluchtbewegung – realistisch oder nicht?

Reinhard Schulze: Ein solches Szenario wurde schon lange vor der aktuellen Fluchtbewegung beschworen. Doch allein schon ein Blick auf die Statistik zeigt, wie absurd diese Annahme ist. Eine muslimische Bevölkerungsmehrheit in Westeuropa ergäbe sich bis 2046 nur dann, wenn jährlich mindestens 10 Millionen Muslime einwanderten, das Bevölkerungswachstum unter den muslimischen Einwohnern bei über 4 Prozent jährlich läge, das Bevölkerungswachstum der europäischen Nichtmuslime bei unter 0,6 Prozent läge und zudem sich tatsächlich alle Einwanderer, die über einen islamischen Hintergrund verfügen, als fromme, praktizierende Muslime verstünden. Des Weiteren müssten dann alle Muslime in Europa einträchtig zum Konsens gefunden haben, dass Frauen einen Hijab zu tragen hätten. Verkürzt man den Zeitraum gar auf 20 Jahre, dann müssten pro Jahr 16 Millionen Muslime nach Europa einwandern.

Realistische Schätzungen hingegen gehen davon aus, dass selbst bei einer kontinuierlichen Einwanderquote von 500’000 Menschen mit islamischen Hintergrund diese im Jahre 2046 nur etwa sechs bis sieben Prozent der westeuropäischen Bevölkerung bilden würden. Dabei ist noch nichts darüber ausgesagt, welche Bedeutung der Islam für diese Menschen haben wird und welcher islamischen Tradition sie sich verpflichtet sehen werden.

Gürbüz behauptet, die Verfolgung und Tötung von Christen durch heute islamistische Terrorgruppen sei die Verlängerung des Genozids an den Armeniern von 1915.

Schulze: Die brutale Verfolgung von Christen, Jeziden, Schiiten und Muslimen durch die ultraislamischen Kampfbünde unter anderem des sogenannten «Islamischen Staats» kann historisch nicht mit dem Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren in Verbindung gebracht werden. Das Osmanische Reich, das für den Völkermord an den Armeniern verantwortlich war, handelte aus ganz anderen Motiven als der sogenannte Islamische Staat (IS).

Was sagen Sie zur «historischen Darstellung» von Gürbüz, die eine 1300 Jahre lange Geschichte der Verfolgung von Christen durch Muslime behauptet?

Der Versuch, die aktuelle Verfolgung von religiösen Gemeinschaften durch den IS gar als Teil einer gesamtislamischen Geschichte zu sehen, widerspricht jeglichen Erkenntnissen historischer Forschung. Immerhin ist zu bedenken, dass bis in das 12. Und 13. Jahrhundert hinein noch grosse Teile der Bevölkerung des Nahen Ostens christlichen Gruppen und Gemeinschaften angehörten. Vielfach stellten diese noch die Bevölkerungsmehrheit. Erst im Hochmittelalter, vor allem im Nachgang der Kreuzzüge nahm die Zahl der Muslime besonders durch Konversion deutlich zu.

Der Versuch, die aktuelle Verfolgung von religiösen Gemeinschaften durch den IS als Teil einer gesamtislamischen Geschichte zu sehen, widerspricht Erkenntnissen historischer Forschung.

Verfolgungen religiöser Minderheiten betrafen zu manchen Zeiten und in bestimmten Regionen (vor allem in Nordafrika) weniger die Christen als vornehmlich die Juden. Selbst auf der arabischen Halbinsel gab es bis in das 10. Jahrhundert hinein noch christliche Gemeinschaften. Arabische mittelalterliche Quellen berichten nur sehr selten von einer Christenverfolgung. Viele ihrer Berichte beziehen sich auf die Verfolgung von Christen im vorislamischen, sassanidischen Persien.

Natürlich hat es gerade nach den Kreuzzügen Repressionen gegenüber christlichen Minderheiten gegeben. Vor allem seit der Frühen Neuzeit ist auch von einzelnen Pogromen gegen christliche Gemeinschaften zu lesen. Auch überliefern syrisch-orthodoxe Traditionen etwa für die Zeit des 8. und 9. Jahrhunderts das Martyrium von neun christlichen Würdenträgern. In dieser turbulenten Zeit gab es auch Angriffe auf Kirchen, doch nirgendwo wurde über grössere Massaker an Christen berichtet.

Auch wenn manche muslimische Gelehrten weiterhin gegen das Christentum polemisierten und sich gar für das Verbot, Kirchen zu bauen, aussprachen, blieb die Lage der Christen, verglichen etwa mit der der Juden in Europa, recht stabil, wenn auch verwundbar. Die Situation christlicher Gemeinschaften sollte sich erst im 19. Jahrhundert ändern.

Inwiefern änderte sich die Situation im 19. Jahrhundert?

Die Kolonalmächte traten nun als konkurrierende Schutzmächte nahöstlicher christlicher Gemeinschaften auf, was dazu beitrug, dass sich die konfessionelle Ordnung weiter verfestigte. Wie komplex die Situation war, zeigt folgendes Ereignis: Vom 9. bis 13. Juli 1860 wüteten drusische und sunnitische Milizen in Damaskus und töteten Tausende Christen. Die Gewalt richtete sich mehrheitlich gegen maronitische und evangelische Christen. Syrisch-orthodoxe Christen, die im ausserhalb der Stadtmauer gelegenen Stadtteil Midan lebten, blieben mehr oder weniger unbehelligt, da sie unter dem Schutz der muslimischen Nachbarschaft standen. Mehr als dreitausend Christen konnte sich unter den Schutz des algerischen Emirs ‘Abdalqadir retten, der mit seiner Leibgarde in der Zitadelle residierte. Anderseits waren syrische Christen massgeblich an dem Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung von Damaskus und an der Zerstörung der dortigen Synagoge im Jahre 1839 beteiligt gewesen. Dies alles zeigt, dass es historisch vollkommen verfehlt ist, hier auf einen seit dem 7. Jahrhundert andauernden Völkermord an den Christen durch «den Islam» zu schliessen.

Gürbüz befürchtet, die Muslime würden mit ihrem zahlenmässigen Anwachsen in Europa auch die Macht übernehmen und mit der Verfolgung der Christen anfangen. Ein Hirngespinst?

Schulze: Es sind vor allem ultraislamische Gemeinschaften, die von einem apokalyptischen Endkampf zwischen dem Westen und dem Islam schwärmen und einen Triumpf des Islam über den Westen erwarten. Doch selbst sie erwarten keine Machtübernahme der Muslime in Europa. Die neuansässigen muslimischen Gemeinschaften in den europäischen Ländern ihrerseits verknüpfen mit ihrer islamischen Tradition keinerlei Auftrag, die Macht zu übernehmen. Das schliesst natürlich nicht aus, dass einzelne Schwärmer von einem islamischen Europa träumen, doch die überwiegende Mehrheit der hiesigen Muslime erhofft sich eher durch einen wie immer auch gedachten europäischen Islam eine grundsätzliche Verbesserung ihrer sozialen und religiösen Situation.

Vor allem ultraislamische Gemeinschaften schwärmen von einem apokalyptischen Endkampf zwischen dem Westen und dem Islam und erwarten einen Triumpf des Islam über den Westen.

Der syrisch-orthodoxe Bischof behauptet weiter, die Golfstaaten, die Emirate und Katar nähmen keine muslimischen Flüchtlinge auf, weil es ihre Agenda sei, Europa zum Islam zu konvertieren. Wie ist ihre Einschätzung?

Schulze: Die Zurückhaltung der Golfstaaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen hat primär innenpolitische Gründe und folgt im Grunde dem Sankt-Florian-Prinzip. So wird darauf hingewiesen, dass in manchen dieser Staaten über 80 Prozent der Wohnbevölkerung Ausländer seien. Eine privilegierte Aufnahme von Flüchtlingen würde die soziale Balance schwerwiegend stören. Zudem seien die Golfstaaten eben nicht das erklärte Ziel der Flüchtlinge. Die Agenda der Golfstaaten befasst sich nicht mit der Frage, wie Europa zum Islam zu konvertieren sei. Wohl gibt es Missionsorganisationen, die aber vor allem auf die bestehenden muslimischen Gemeinschaften ausgerichtet sind und deren Ziel darin besteht, die neuansässigen muslimischen Gemeinschaften auf einen puritanischen Islam zu verpflichten.

Wie erklären Sie sich das extrem negative Islam-Bild des Bischofs?

Schulze: Warum sich Bischof Gürbüz solch populistischen Verschwörungstheorien anschliesst und sogar noch radikalisiert, vermag ich nicht zu sagen. Es mag sein, dass er glaubt, die Stellung der syrisch-orthodoxen Gemeinschaften in Westeuropa stärken zu können, indem er eine Allianz mit den sogenannten Islam-Kritikern, die solche kruden Verschwörungstheorien pflegen, eingeht. Dabei übersieht er, dass gerade in Syrien und Irak auch muslimische Gruppe und Gemeinschaften viel zum Schutz der orientalischen Christen beigetragen haben. (bal/rp)

«Was heute im Nahen Osten geschieht, wird auch in Europa passieren»

Reinhard Schulze, Islamwissenschaftler | © Screenshot SRF
15. April 2016 | 12:23
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