«Schweigen – das fehlt unseren Gottesdiensten am meisten»

Fulbert Steffensky anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Liturgischen Instituts

Zürich, 19.6.13 (Kipa) «Die Liturgie des Lebens rechtfertigt unsere Gebete und Gottesdienste», sagte Fulbert Steffensky, Theologe und emeritierter Professor für Religionspädagogik. Er sprach anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Liturgischen Instituts der deutschsprachigen Schweiz in Zürich zum Thema Liturgie und Lebensgüte. Für ihn verfolgen Gottesdienste keine Zwecke und in den neueren Texten stellt er eine «Verhaustierung Gottes» fest. Dass die Auslegung der biblischen Texte diese selbst überdecken, ärgert ihn, sagte er während des Vortrags am 17. Juni.

Rund 45 Personen waren der Einladung des Liturgischen Instituts in das Pfarreizentrum der Zürcher Liebfrauenkirche gefolgt. In seinem Festvortrag mit dem Titel «Den Schwachen verhalf er zum Recht. Das heisst: mich wirklich erkennen (Jer 22,16)» sprach Fulbert Steffensky über die Güte des Gottesdienstes und die Gütes des Lebens. Ihm zufolge warnten die Propheten vor der «Grundgefahr aller Religionen, Leben und Gebet, Gottesdienst und das Tun der Gerechtigkeit, Spiritualität und Weltverhalten, Gotteserkenntnis und Barmherzigkeit auseinanderzureissen». Der «vernünftige Gottesdienst» (Röm 12,1) finde im Leben und nicht nur in den Kirchen statt.

In seiner Kritik an der Kirche während des Zweiten Weltkriegs nennt Fulbert Steffensky die Karfreitagsgottesdienste, an denen für die «gottlosen Juden» gebetet wurde, aber die Kirche nicht für jene Opfer eingetreten ist. Mehr noch habe sie dem Grauen und Morden zugesehen und «glaubte sich als Erben jener Gottverdammten». An den Judensonntagen wurde für die Bekehrung der Juden gebetet, doch Bekehrung wozu? «Zu dieser Kirche, die ihnen kein Lebensrecht einräumte?» Er sieht nur eine Möglichkeit für die Kirche, ihrem Antijudaismus zu entkommen und ihre Gottesdienste zu reinigen. Die Kirche müsse die Vorwürfe Christi, die Christus gegen eine falsche Praxis der jüdischen Überlieferung erhebt, als Vorwürfe gegen sich selbst verstehen.

Für Steffensky stellten sich Fragen wie: «Wo sind uns theologische Spitzfindigkeiten ernster als die Barmherzigkeit? Welche Aufmerksamkeit haben unsere Kirchen für die, die ihre gesellschaftliche Geltung verloren haben, die ‘Sünder und Zöllner’ unserer Tage?» Die Qualität der Gottesdienste machten nicht tolle Predigten oder eine gute Ästhetik aus, sondern «unsere Fähigkeit, Gerechtigkeit und Gottesverehrung in Einklang zu bringen».

«Mitteilungsveranstaltungen»

«Was heisst das für unsere Gottesdienste?», fragte der Theologe. Seine Antwort darauf: «Gottesdienste verfolgen keine Zwecke und im Lob Gottes beabsichtigt man nichts, ausser, ihn zu loben.» Das deutlichste Lob Gottes finde er im Singen und im Schweigen. Schweigen sei für ihn die Grundform der Absichtslosigkeit. Steffensky zitiert den deutschen Theologen Gerhard Tersteegen (1697-1769) mit den Worten «Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweige». Am meisten vermisse er in den Gottesdiensten das Schweigen, denn oftmals sind diese zu «Mitteilungsveranstaltungen» geworden. Auch in den Gebeten sehe er oft wortgewaltige Mitteilungen an Gott und er wünsche sich «wenigstens ab und zu Gottesdienste, in denen wir Gott nichts mitteilen und nichts von ihm wollen».

Für Steffensky ist Gott harmlos geworden. In den neuen Liedern, Gebeten und Texten stellt er eine «Art Verhaustierung Gottes» fest. Gott hat seinen Schrecken verloren, man braucht sich vor ihm nicht mehr die Schuhe auszuziehen oder das Gesicht zu verhüllen. Gott ist der gute Vater, die nährende Mutter, der begleitende Bruder, doch diese religiöse Welt sei ihm zu glatt, zu widerspruchsfrei, zu harmonistisch und zu geheimnislos. Gott sei in dieser «Positivität auch ein bisschen onkelhaft geworden, gezähmt und absehbar».

«Gebrauchsfertiges Evangelium»

Worüber er sich schon lange ärgere, sei die Auslegung der biblischen Texte im Gottesdienst. Die Auslegungen würden die Texte selbst überwuchern. Die Psalmen kämen nur noch in «Häppchenform» im Gottesdienst vor, und Lesungs- und Evangeliumstexte seien aus dem Sinnzusammenhang oft willkürlich herausgeschnitten. «Das Evangelium kommt immer schon als ausgelegtes, sozusagen als gebrauchsfertiges.» Als ob man dem Text und seinen Bildern nichts zutraue, so Fulbert Steffensky.

Für ihn sei Auslegung eines biblischen Textes, indem man ihn hört. «Hören ist kein passiver Vorgang.» Richtig hört man, wenn man von sich selbst etwas dazutut – auch wenn man auf diese Weise den Text ein Stück weit fälscht, doch geschehe dies nicht stärker, als es in jeder Predigt passiere. Hören ist die demokratischste Form der Inszenierung, meint Steffensky. Demokratisch deshalb, weil «vor aller Auslegung durch einen anderen die Auslegung des hörenden Subjekts steht».

Nachtgebet

Als ein Beispiel für einen Gottesdienst mit prophetischen Absichten nennt Steffensky die politischen Nachtgebete, die er 1967 mit seiner Frau Dorothee Sölle begründet hat und die noch heute «geläufige Gottesdienste» auf den Kirchentagen sind. Das Nachtgebet sei ein Versuch gewesen, in einem Gottesdienst «gesellschaftliche Zustände vor dem Horizont christlicher Tradition zu bedenken».

Seinen Namen erhielt das «politische Nachtgebet» durch den Umstand, dass die Leitung des Katholikentages in Essen 1968 diesen Gottesdienst auf 23.30 Uhr, eine scheinbar harmlose Zeit, legte. Nach dem Katholikentag habe man eine katholische Kirche in Köln gesucht, wo das Nachtgebet stattfinden kann. «Der damalige Erzbischof von Köln, Kardinal Joseph Frings, untersagte den Gottesdienst, doch die evangelische Antoniterkirche nahm uns auf», erzählt der Theologe.

Nachhaltige Aktionen

Auch sei das Nachtgebet anfänglich nicht als Ersatz der herkömmlichen Gottesdienste gedacht gewesen. «Erst als die Gegner bestritten, dies sei ein Gottesdienst, haben wir darauf bestanden, es Gottesdienst zu nennen», erzählt Steffensky weiter. Informationen zu einem politischen Thema, eine Meditation, aber auch Bibeltexte, Gebete, Lieder und oft auch eine «herkömmliche Predigt» waren Bestandteile des Nachtgebets. Die katholischen und evangelischen Kirchenleitungen hätten seinerzeit fast immer «zensorenhaft und wahrheitsverwaltungsmässig» auf die theologischen Texte des Nachtgebets reagiert. Auch ausreichend Platz für Gespräche, Einwände und Angriffe auf die Texte während des Nachtgebets sei wichtig gewesen.

Als nachhaltig hätten sich die Aktionsvorschläge, auch ein Element des Nachtgebets, erwiesen: Es bildeten sich Gruppen, die unabhängig von der Nachtgebetsgruppe arbeiteten und beispielsweise politische Gefangene in Kooperation mit Amnesty International betreuten. «Auch weil wir die Texte der Nachtgebete an über 2.000 Adressaten verschickten, entstanden in anderen deutschen und europäischen Städten, Nachtgebete», sagt er.

Ein «political nightprayer» habe sich gar bis Australien verirrt, erzählt Steffensky von der Geschichte des Gebets. Erst im letzten Jahr hat es in Moers und Duisburg Nachtgebete zur «barbarischen Behandlung von Arbeitern und Arbeiterinnen bei der Verkaufskette Lidl» gegeben, so der Mitbegründer.

Separat 1:

Fulbert Steffensky

Fulbert Steffensky (79) studierte katholische und evangelische Theologie. Er lebte 13 Jahre lang als Ordensmann in der Benediktinerabtei Maria Laach im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz. 1969 konvertierte er zum lutherischen Bekenntnis und heiratete die evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929-2003). Steffensky promovierte 1972 an der Ruhr-Universität in Bochum. In den darauffolgenden drei Jahren war er Professor für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Köln. Von 1975 bis 1998 war Steffensky Professor für Religionspädagogik an der Universität Hamburg. Mit Dorothee Sölle begründete er 1967 das Politische Nachtgebet, welches bis 1972 regelmässig in der evangelischen Antoniterkirche in Köln gefeiert wurde. Steffensky lebt mit seiner zweiten Frau, der Theologin Li Hangartner, in Luzern.

Separat 2:

Liturgisches Institut

Das Institut ist von der Schweizer Bischofskonferenz 1963 auf Initiative des Freiburger Liturgieprofessors Anton Hänggi an seinem Lehrstuhl errichtet worden. Nach der Wahl Hänggis zum Bischof von Basel siedelte es 1968 nach Zürich über, von wo es 2000 nach Luzern verlegt wurde. Im Jahr 2004 kehrte das Institut an seinen Ursprungsort zurück.

Der Umzug des Instituts nach Freiburg führte zu einer neuen Trägerschaft. Der bisherige Verein wurde aufgelöst. Als Arbeits- und Dienststelle wurde das Liturgische Institut im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz von der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz (DOK) 2004 neu errichtet. Das Institut hat die Aufgabe, die pastoralliturgische Arbeit in der deutschsprachigen und rätoromanischen Schweiz zu koordinieren und zu fördern.

Am 17. Juni lud das Liturgische Institut Kolleginnen und Kollegen von Fachstellen, Organisationen und Hilfswerken zu einer Jubiläumsfeier in das Pfarreizentrum Liebfrauen in Zürich ein. Der Nachmittag stand unter dem Thema «Liturgie und Ethik», an dem Fulbert Steffensky den Festvortrag hielt. Weitere kurze Statements zum Thema kamen von Antonio Hautle, Direktor des Fastenopfers, Werner De Schepper, Theologe und Journalist (»Tele-Bärn»), und Birgit Jeggle-Merz, Professorin für Liturgiewissenschaft in Chur und Luzern.

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(kipa/am/ami/job)

19. Juni 2013 | 14:57
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