Natalija Marchenkova Frei und Karl Schimke
Schweiz

Zwei Musiker orchestrieren die St. Galler Kirchenglocken zu einem Konzert

St. Gallen, 20.8.16 (kath.ch) Am Sonntag erklingen in St. Gallen die Glocken aller Kirchen in einem gemeinsamen Konzert. Am zentralen Hörort entstehe so ein symphonisches Hörerlebnis, sagen Natalija Marchenkova Frei und Karl Schimke. Die beiden Musiker haben das Projekt «Zusammenklang» gemeinsam entwickelt.

Regula Pfeifer

Vorsichtig steigt Natalija Marchenkova Frei ein enge Wendeltreppe, dann eine Holztreppe hinauf in den Glockenturm der reformierten Kirche St. Laurenzen in St. Gallen. Der Komponistin, die seit 15 Jahren eine Glockenspielidee in sich trägt, ist sichtlich unwohl in solchen Höhen. Dennoch wird ihre Idee am Sonntagnachmittag umgesetzt: Die 118 Kirchenglocken der Stadt St. Gallen werden gemeinsam ein Freiluftkonzert geben. Ihr Projektpartner Karl Schimke, der sportlich zu den Glocken hochgeht, hat das Grossprojekt organisiert. Daran beteiligen sich 29 reformierte oder katholische Kirchen, 50 Freiwillige, ein Informatiker.

Der ideale Hörort, um das Glockenkonzert zu erleben, befindet sich auf einem Hügel der Stadt, konkret am Dreilindenweg unterhalb des Bubenweihers. Diesen hat das Projektteam als zentralen Hörort bestimmt. Dort kommen die Klänge der verschiedenen Glocken der Stadt zusammen und bilden jenes Hörerlebnis, das Karl Schimke als «Symphonie» bezeichnet. Es sind jene Kompositionen, die Marchenkova und Schimke für den Anlass erarbeitet haben.

Überall als kompositorisches Ereignis erkennbar

An anderen Orten der Stadt wird das Klangerlebnis überall je anders sein. «Die Töne treffen aber an jedem Ort im jeweils gleichen Rhythmus auf», sagt Schimke. So höre man, dass das Ganze kein zufälliges Geläute, sondern ein kompositorisches Ereignis sei. Bei Marchenkovas Stück, das laut Schimke viele regelmässigen Achtelnoten enthält, werden diese an einem bestimmten Ort beispielsweise als punktierte Noten erklingen. Jeder Ort werde einen komplett anderen Rhythmus aufweisen, erklärt Schimke begeistert.

Jeder Ort wird einen komplett anderen Rhythmus aufweisen.

Seine Kollegin habe es geschafft, wunderbare Harmonien zu schaffen, die sich über die Stadt ausbreiten werden, lobt Schimke in Richtung Marchenkovas. «Auch du hast sehr schöne Rhythmen entwickelt», gibt diese das Kompliment an ihren Kollegen zurück, der nicht ausgebildeter Komponist, sondern Solo-Tubist im Symphonieorchester St. Gallen und vor 23 Jahren für seine musikalische Ausbildung von Strassbourg in die Schweiz gekommen ist.

Die Glockenkomposition startet um 14.15 Uhr mit einer sechsminütigen Einleitung. Es handle sich dabei um eine Klangmalerei, die mit ihren vielen tiefen «G» auch die alltäglichen Glockenklänge zitiere, erklärt Schimke, der diesen Teil komponiert hat. Er verspricht Klangwellen, die die Stadt überziehen werden.

Ein Kreuzzeichen über der Stadt

Um 14.45 Uhr werden diese gestoppt – und der übliche Dreiviertelschlag der Kirchglocken ertönt. Danach folgt Marchenkovas Stück – bis zur nächsten Zäsur, dem Dreiuhrschlag. Sie habe für ihre Komposition ein Motiv aus drei Tönen entwickelt und dieses über sieben Takte hinweg weitergezogen. Das ergebe 21 Variationen, erklärt Marchenkova. «Und mit jedem Klang, den ich fand, wurde ich glücklicher», schwärmt sie. Den Schluss ihres Stücks bildet eine Zeremonie, so Marchenkova. Wie bei einem Kreuzzeichen lässt sie die «G» und «B»-Töne von Norden nach Süden und von Osten nach Westen über die Stadt ziehen. Der Ton der tiefsten Glocke der Stadt erklingt als letzte: das «E» aus dem Glockenturm der Kathedrale.

Auf den Dreiuhrschlag folgt ein fünfminütiges Schlussbouquet, so Schimke. Aus der Stille heraus wird auf einen Schlag ein wuchtiges Glockengeläut von allen Seiten her erklingen, und zwar von der tiefsten zur höchsten Glocke hinauf. Das sei die umgekehrte Tonfolge als bei Glocken üblich, so Schimke. «Beim Schlussbouquet gibt die Stadt alles, was sie hat», erklärt dessen Schöpfer Karl Schimke. Er kenne das berauschende Gefühl vom Silvester- oder Allerheiligengeläut her.

Die Schwierigkeit, den Schall zu bündeln

Ein solches Konzert umzusetzen, ist laut dem Tubisten komplex. Die Hauptschwierigkeit besteht in der unterschiedlichen Distanz der Kirchen vom zentralen Hörort. Der Schall von der Laurenzenkirche braucht nur zwei Sekunden, um beim zentralen Hörort anzukommen, einer von der Kirche im Winkel hingegen 20,62 Sekunden. Die Kirche im Winkel müsse also einiges früher angeschlagen werden, damit am zentralen Hörort Ton gleichzeitig zu hören sei. Das Problem hat die Informatikfirma Namics gelöst. Sie hat eine App entwickelt, in der Distanzen, Umwelteinflüsse und auch Reaktionszeiten der Glockenspieler einberechnet sind. Die App gibt den Glockenspielern in ihren Kirchen das Signal für ihren Einsatz. «Unser Computerspezialist ist also der Konzertdirigent», sagt Marchenkova leicht ironisch zu Schimke. Der nickt.

Unser Computerspezialist ist also der Konzertdirigent.

Am Donnerstagabend wurde der Auftritt getestet. Aber nicht mit den Kirchglocken, sonst wäre die Überraschung am Sonntag ausgeblieben. «Alle Glockenspieler haben mit Glockenspielstäben auf eine Box geschlagen», sagt Schimke. Da dieselben Töne erklangen, habe man einen Eindruck vom Konzert erhalten, so Schimke. Gleichzeitig sei den Beteiligten bewusstgeworden, wie wichtig Konzentration sei, um den Einsatz rechtzeitig zu bringen. Die Projektinitianten hoffen natürlich, dass das Vorhaben am Sonntag klappt. «Es ist ein Experiment, das es so nirgends gibt», sagt Marchenkova.

Die Idee dazu war ihr vor 15 Jahren gekommen, als sie, eben von Moskau nach St. Gallen eingewandert, das Glockenspiel in der Stadt wahrnahm. Die Musikerin merkte: Da fehlt etwas, nämlich ein harmonisches Zusammenspiel. So trug sie die Glockenspielidee jahrelang in sich. Anfang 2015 machte sie den ersten Schritt: Sie sprach mit dem St. Galler Bischof Markus Büchel. «Er zeigte grosses Interesse und fand, da müssten die reformierten und katholischen Kirchen zusammenarbeiten», sagt Marchenkova.

Nur gemeinsam möglich

Auch Schimke trug eine Glockenspiel-Idee mit sich – und sandte just im Januar 2015 ein Mail an Marchenkova. «Das war eine Fügung», sagt Schimke. So trafen sich die beiden und verfolgten die Idee weiter, die am Sonntag unter dem Titel «Zusammenklang» ertönt. Dass alle Kirchen der Stadt St. Gallen mitmachen, findet Schimke «wunderschön». Er verweist auf den ökumenischen Charakter des Projekts und meint: «Es ist möglich, das gemeinsam zu machen. Und nur gemeinsam ist es möglich.» Und Marchenkova fügt an: «Mir ist wichtig, dass wir unseren christlichen Glauben nicht verlieren. Deshalb habe ich mein Stück Gott gewidmet.»

Die beiden hoffen, dass ihr Projekt die Sanktgaller auch dazu bringt, die Glocken ihrer Stadt bewusster wahrzunehmen und damit das Glück, da zu leben. «Das Projekt hat unsere Liebe zu St. Gallen gestärkt», sagt Marchenkova.

Weitere Informationen «Zusammenklang»

Natalija Marchenkova Frei und Karl Schimke | © Regula Pfeifer
20. August 2016 | 12:01
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