Ihr Schmuck verrät ihre Zugehörigkeit zur Punk-Szene: Henning (l.) und Dennis
Schweiz

Zwei Lutheraner sprechen über Body Suspension, BDSM und die Gruftie-Szene

Dennis Wiedemann und Henning Diesenberg haben an einer Tagung in Zürich über Abweichung in der Gesellschaft gesprochen. Bei «Body Suspension» sei eine «göttliche Sphäre» erfahrbar. Das schwule Paar zeigt mit Schmuck, Tätowierungen und Schminke: Auch es lebt anders.

Regula Pfeifer

Worüber haben Sie an der Tagung in der Paulus-Akademie gesprochen?

Henning Diesenberg*: Wir haben über Deviates gesprochen, also über Abweichung – auf Englisch. Viele Menschen – auch in der queeren Community – geben sich zufrieden damit, zu zweit zu heiraten und irgendwann eine Eigentumswohnung mit Garten, Hund und SUV zu haben. Doch das ist nicht das, was sich alle Leute von ihrem Leben erhoffen. Es gibt andere Lebensziele.

«Es gibt Leute, die ihre Kinks leben.»

Dennis Wiedemann

Dennis Wiedemann*: Es gibt Leute, die ihre Kinks leben (ausgefallene Sexualpraktiken, Red.), BDSM (Bondage und Sado-Masochismus , Red.) praktizieren oder Fetischkleidung tragen. Das ist für sie integraler Teil ihres Seins. So etwas hat im normalen Diskurs – etwa im kirchlich geprägten European Forum – oftmals keinen Platz. Nicht, dass das abgelehnt würde, aber der Diskurs findet oft einfach nicht statt.

«Wir tauchten gemeinsam in die Gruftie-Szene ein.»

Dennis Wiedemann

Wofür steht Ihr Schmuck?

Wiedemann: Ich bin christlich sozialisiert, seit ich 18 bin. Wenig später zog ich auch nach Berlin. Henning und ich waren damals schon zusammen und tauchten gemeinsam in die Gruftie-Szene, die Punk-Szene ein. Mich hat zum einen mein Engagement im christlichen Bereich geprägt. Gleichzeitig ging ich abends zu irgendwelchen Punk-Feten. Das hat meine politische Einstellung und meine Einstellung zur Ästhetik geprägt. Das spiegelt sich äusserlich wider. Es ist immer gut, wenn man einen Weg findet, beides zu leben, ohne damit in Konflikt zu geraten.

Die beiden Homosexuellen tragen lackierte Fingernägel.
Die beiden Homosexuellen tragen lackierte Fingernägel.

Ist das schwierig?

Wiedemann: Es ist ein dritter Aspekt, der hinzukommt. Zum Queersein kommt das Christsein – und dann noch die Zugehörigkeit zu einer Subkultur. Das kann ein Konglomerat von Reibungspunkten geben.

Sind Sie gleichzeitig in der Kirche und in der Punk-Szene aktiv gewesen?

Wiedemann: Genau, Berlin ist eine Stadt, in der das – zumindest örtlich – gut möglich ist, weil alles dicht beieinander liegt.

«Ich bin in die kirchliche Schiene durch Dennis reingerutscht.»

Henning Diesenberg

Wie ist es bei Ihnen?

Diesenberg: Ich bin in die kirchliche Schiene durch Dennis reingerutscht. Wir haben uns vor 21 Jahren kennen gelernt. Da war für Dennis das kirchliche Engagement zentral. Er hat queere kirchliche Gruppen gesucht und ist dann zur Huk gestossen, zur Gruppe «Homosexuelle und Kirche». Die gibt es seit Jahrzehnten und hat mir klar vor Augen geführt, dass es kein Widerspruch ist, Homosexualität und Christentum zu leben. Dass das geht. Die Gruppe in Berlin war uns gegenüber immer offen. Sie hat nie ein Problem daraus gemacht, dass wir mit langen Iros, schwarzen Klamotten und Kajal rumliefen. Das war nie ein Konflikt, da habe ich mich wohl gefühlt.

Sind Sie kirchlich sozialisiert?

Diesenberg: Ich bin getauft und konfirmiert. Das hat man in meiner Gegend so gemacht. Das kirchliche Engagement kam später hinzu.

Was drückt Ihr Schmuck aus?

Wiedemann: Ich habe keine Ahnung.

Diesenberg: Der Schmuck gefällt mir einfach. Es geht darum, den Körper zu schmücken und ihn damit zu verändern. Ich erinnere an den Spruch aus der Bibel: «Your body is your temple». Wieso soll ich also den Tempel nicht verschönern und schmücken?

Das Dehnen des Ohrlochs war für Henning (l.) ein Schmerz-Erlebnis.
Das Dehnen des Ohrlochs war für Henning (l.) ein Schmerz-Erlebnis.

«Das Ohrlochdehnen ist mit Schmerz und Lust am Leiden verbunden.»

Henning

Haben Sie Vorbilder? Ihren Ohrenschmuck verbinde ich mit afrikanischem Schmuck. Ist das Absicht?

Diesenberg: Das Ohrlochdehnen findet man in verschiedensten Teilen der Welt. Ursprünglich hatte ich da Stahlringe drin. Ich habe das Loch immer weitergedehnt. Das ist wie eine sportliche Herausforderung, aber auch mit Schmerz und Lust am Leiden verbunden. In der Body-Modification-Szene verbinden viele die Körper-Verschönerung mit der Lust am Leiden. Das sehen auch einige im Christentum als zentralen Punkt an.

Inwiefern?

Diesenberg: Die Leute fasten über mehrere Wochen und üben so Verzicht. Das kann zu körperlichem oder mentalem Leiden führen. Oder die Leute, die im katholischen Gottesdienst mehrmals auf die Knie fallen. Da tun irgendwann auch die Knie weh – und trotzdem machen die Leute das gerne. Da sind Parallelen vorhanden.

Und das Leiden Jesu – auf dem Kreuzweg und am Kreuz? Sehen Sie da eine Parallele?

Wiedemann: Ich möchte das nicht leichtfertig in die Nähe voneinander rücken. Wir sind natürlich nicht gleich wie Jesus. Ich würde nicht sagen, dass ich in meinem Leiden das Leiden Christi erlebe. Das ist eine andere Form von Leiden. Die Attraktivität, die dahintersteckt, mag sich ähneln…

«Sich selber erfahren im Schmerz kann eine Gotteserfahrung sein.»

Was meinen Sie damit?

Wiedemann: Für einige Menschen ist eine gewisse Form von Leiden attraktiv. Sich selber spüren, den Körper spüren, sich selber erfahren im Schmerz… Das kann vielleicht für manche eine Gotteserfahrung sein. Für mich persönlich ist es nicht so. Es gibt Praktiken, wo Leute über längere Zeit Schmerz suchen. Das sieht man an seinem T-Shirt (zeigt auf Henning). Zum Beispiel bei Body Suspensions, da kommen die Leute in andere Bewusstseinszustände kommen, in Trance oder Ekstase.

Ein Heiliger Sebastian aus der Schule von Nicolas Régnier, 17. Jahrhundert.
Ein Heiliger Sebastian aus der Schule von Nicolas Régnier, 17. Jahrhundert.

Das ist auch in historischen Bildern des Heiligen Sebastian oder der Schmerzensmutter zu sehen. Deren Gesicht drückt negativen Schmerz aus, aber nicht nur. Auch ein starkes Erleben dringt durch.

Diesenberg: Dass die Künstlerinnen und Künstler so das Leiden dargestellt haben, spricht dafür, dass sie selber eine Faszination dafür hatten.

Wiedemann: In jedem Kunstwerk lebt ein Teil der Künstlerin oder des Künstlers selbst – ob subtil oder manifest.

Henning mag Body Suspension - also Aufgehängtsein
Henning mag Body Suspension - also Aufgehängtsein

Was hat es mit Ihrem T-Shirt auf sich?

Diesenberg: Das ist von der Body Suspension Conference. Bei einer Body Suspension lassen sich Menschen mit Seilen binden und in die Luft ziehen. So verweilen sie und geraten in einen schmerzbedingten ekstatischen Zustand. Es gibt auch die extremere Form: Da werden keine Seile verwendet, sondern Haken in die Haut gesetzt. So werden sie hochgezogen. Das Ganze geschieht natürlich unter Sicherheitsvorkehrungen, ausgeführt von Profis.

«Body Suspension ist ein toller Weg, sich neu kennen zu lernen.»

Haben Sie Erfahrung damit?

Diesenberg: Ja, ich habe eine Faszination dafür und es schon ein paarmal gemacht. Das ist immer wieder ein toller Weg, um sich selbst neu kennen zu lernen, den Alltag zu vergessen und in eine göttliche Sphäre einzutauchen.

Wiedemann: Du hast schon erzählt, dass Leute, die das machen, von spirituellem Erleben sprechen. Allerdings selten von christlichen.

Diesenberg: Genau. Es werden Räucherstäbchen angezündet, um eine Atmosphäre zu schaffen. Und sie bringen Hintergrundmusik mit, um den Raum entsprechend zu gestalten. Dieses persönliche Erleben habe ich in unserem Beitrag auf der Konferenz eingebracht.

Wie haben die Leute darauf reagiert?

Diesenberg: Durchaus offen und interessiert, sehr positiv.

Und was haben Sie eingebracht?

Wiedemann: Ich habe über die ethische Dimension von solchen Trance-Erlebnissen gesprochen. Ich habe über die veränderten Bewusstseinszustände gesprochen mit der Frage: Welche Aufgabe erfüllen diese in unserer Welt? Und warum sind viele davon reguliert? Zum Beispiel sind gewisse Drogen verboten. Und es ist ein Tabu, sich starke Schmerzen zuzufügen.

«Einige haben gesagt: Trance-Zustände haben sie im Glauben weitergebracht.»

Dennis Wiedemann

Was war Ihr Fazit?

Wiedemann: Aus den Rückmeldungen des Publikums haben wir gesehen: Viel an solchen Zuständen ist in uns Menschen tatsächlich schon angelegt. Viele Leute haben damit schon Erfahrungen gemacht. Und sie sind auf unterschiedliche Wegen in solche Zustände gekommen. In diesem christlichen Umfeld haben einige gesagt: Diese Erfahrungen seien schlecht gewesen. Andere haben gefunden: Genau dies habe sie in ihrem Glauben weitergebracht.

Inwiefern?

Wiedemann: Sie konnten eine Nähe fühlen, die über die Alltagserfahrung hinausgeht. Das kann religiöse Dimensionen annehmen, dieses Gefühl des Einsseins.

Haben Sie das selbst erlebt?

Wiedemann: Ich mache das selbst nicht, ich beobachte es und mache mir dazu Gedanken. Und mir fällt es auf, wenn ich mich mit Kunstwerken beschäftige.

«Die Grunderfahrung, als Homosexuelle durchs Raster zu fallen, macht offener.»

Dennis Wiedemann

Haben Ihre Interessen damit zu tun, dass Sie schwul sind?

Diesenberg: Ich würde keinen Zusammenhang sehen. Ich habe ein Interesse an der Vielfalt der Schöpfung, bin interessiert, Neues zu entdecken.

Wiedemann: Die Grunderfahrung, als Homosexuelle durchs Raster zu fallen, macht einen vielleicht offener für Vielfalt. Und dafür, diese als etwas Wertvolles wahrzunehmen.

* Dennis Wiedemann und Henning Diesberg leben in Berlin und engagieren sich in der lutherischen Kirche Deutschlands.

Christliche Queer-Tagung in Zürich

Aktuell findet in der Paulus-Akademie Zürich die Jahrestagung des European Forum of LGBT Christian Groups statt. Der Titel lautet: «See I will gather you from wherever you are» (»Seht, ich werde euch sammeln, wo immer ihr seid»).

Das European Forum ist eine ökumenische Vereinigung von christlichen LGBT-Gruppen in Europa. Es hat zum Ziel, Gleichheit und Inklusion für LGBT-Menschen in und durch christliche Kirchen und andere religiöse Gruppen und multilaterale Organisationen zu erreichen. (rp)


Ihr Schmuck verrät ihre Zugehörigkeit zur Punk-Szene: Henning (l.) und Dennis | © Regula Pfeifer
27. Mai 2022 | 12:00
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