Musiker und Organist aus Leidenschaft: Stéphane Mottoul, der neue Hofkirche- Organist.
Schweiz

Zoff mit Vorgänger: Die Liebe zur Musik hat Stéphane Mottoul durch die Krise getragen

Wenn er in die Tasten der Orgel greift, ist sofort seine besondere Beziehung zur Musik zu spüren. Wie ein Pilot im Cockpit lässt Stéphane Mottoul (32) faszinierend ein kleines Orchester aus dem gewaltigen Instrument sprechen. Seit Herbst 2021 ist er Hoforganist in Luzern. Das Mobbing, dem er anfangs ausgesetzt war, sei vorbei: «Die Pandora-Box ist zu.»

Wolfgang Holz

Bevor er sich an die Orgel setzt und Register zieht, wechselt er zuerst einmal die Schuhe: von den hellbraunen Halbschuhen schlüpft er in schwarze Tanzschuhe.

«Durch das Treten der Bässe macht man sich die Schuhe kaputt», versichert der 32-jährige Blondschopf und lächelt. Die Tanzschuhe mit harten Ledersohlen passen ganz gut zu dem, was er tut. Denn kaum hat er zu spielen begonnen, steppt er artistisch auf den hölzernen Bassbalken der Hofkirch-Orgel.

Von den Tönen gepackt

Man braucht den belgischen Hoforganisten nicht zweimal bitten, damit er einem eine Kostprobe seines Könnens auf der einzigartigen Orgel in der traditionsreichen Renaissance-Kirche gibt. Sofort startet er zu einer Bachschen Improvisation.

Herr der Tasten und Register: Stéphane Mottoul an der Hofkirche-Orgel.
Herr der Tasten und Register: Stéphane Mottoul an der Hofkirche-Orgel.

Es ist, als ob die Musik direkt aus ihm herausströmt. Sein furioser Lauf über die Tasten der Orgel mit fünf Manualen wirkt dabei völlig mühelos. Man fühlt sich unmittelbar von den Tönen gepackt.

Ein gigantisches Instrument

«Die Hofkirche-Orgel mit ihren rund 7000 Orgelpfeifen und ihren Bauteilen aus verschiedenen historischen Epochen ist sicher eine der besten in Europa», sagt Stéphane Mottoul.

Er ist stolz darauf, dass er wie schon Wagner, Mendelssohn und Bruckner auf dem gleichen gigantischen Instrument spielen darf. Die grössten Orgelpfeifen schiessen direkt über ihm mit mehr als zehn Metern Länge in die Höhe. «Sound-Schlote» der ganz speziellen Art.

Seit Oktober 2021 ist Stéphane Mottoul aus Belgien neuer Hofkirche-Organist.
Seit Oktober 2021 ist Stéphane Mottoul aus Belgien neuer Hofkirche-Organist.

Wer Stéphane Mottoul zum ersten Mal trifft, ist überrascht. Der in Mons gebürtige Wallone sieht mit seiner langen, blonden Haartracht und seiner dunklen Hornbrille so gar nicht aus, wie man sich landläufig einen Organisten vorstellt.

Poppiger, frischer Wind

Er wirkt eher ein bisschen wie ein aus der Zeit gefallener Popstar – was seine poppig bunten Socken, die er an diesem Tag trägt, die hellbraunen Halbschuhe und sein eleganter Mantel unterstreichen. Oder wie ein Oxford-Absolvent. Man spürt sofort, dass mit dem neuen Organisten frischer Wind in die Hofkirche eingekehrt ist.

Tanzschuhe fürs Orgelspiel: Vor Arbeitsbeginn wechselt Stéphane Mottoul erstmal die Schuhe.
Tanzschuhe fürs Orgelspiel: Vor Arbeitsbeginn wechselt Stéphane Mottoul erstmal die Schuhe.

Gleichzeitig lässt der sympathische Belgier keinen Zweifel daran, dass jeder Atemzug seiner Leidenschaft der Orgel gehört. Die Hofkirche-Orgel ist für ihn absolut Kult. Und jeder Organist könne, so Mottoul, schliesslich selbst entscheiden, wie das Instrument gespielt werde.

Orgel nicht das einzige Instrument

«Die Orgel ist wie ein kleines Orchester, das ich mit meinen Improvisationen zum Leben erwecken kann», sagt der junge Musiker. Früh begeisterte sich der Sohn eines Organisten und einer Pianistin für die Orgel. Daneben spielte er Oboe und Klavier.

Wie im Cockpit eines Flugzeugs: Stéphane Mottoul an seinem ganz speziellen Arbeitsplatz.
Wie im Cockpit eines Flugzeugs: Stéphane Mottoul an seinem ganz speziellen Arbeitsplatz.

Mit zwölf Jahren sass er bereits vor dem Grossinstrument – an die Pedale reichten seine Beine damals noch nicht. «Ich musste einfach warten», sagt er und grinst. Wobei er sich überhaupt nicht als Wunderkind sieht, sondern vielmehr als Produkt beharrlichen Übens.

Jukebox im Kopf

«Die Menschen erkennen oft nur die Spitze des Eisbergs, ohne zu bemerken, wieviel Anstrengung und Mühe hinter einer musikalischen Darbietung steckt. Die Musik beschäftigt mich auch mental den ganzen Tag – es ist wie eine Jukebox im Kopf.» 

Umso begeisterter war der junge Mann, als ihm nach Jahren des Orgelstudiums mit Wettbewerbsauszeichnungen und Stationen in Stuttgart, Paris und Freiburg im Breisgau unter rund 100 Bewerbenden 2021 die Stelle an der Luzerner Hofkirche zugesprochen wurde.

Nachfolger von Sieber

Doch das gefiel nicht allen. Denn bekanntlich wurde der Improvisationskünstler erstmal von den Abschiedswehen seines Vorgängers erfasst.

Letzterer, Wolfgang Sieber, seinerseits hervorragender und beliebter Hoforganist, hatte nach seiner Pensionierung mit 67 und nach über 30 Jahren Tätigkeiten mit seinem Abgang für Wellen gesorgt, in die der Belgier unversehens geriet. Er sah sich als Neuer plötzlich Anfeindungen, Demütigungen und Mobbing ausgesetzt. Wolfgang Sieber wurde unterdessen ein Spielverbot in der Hofkirche erteilt.

Der Organist Wolfgang Sieber.
Der Organist Wolfgang Sieber.

Mittlerweile hat sich die Lage in der Kirchgemeinde St. Leodegar beruhigt. Stéphane Mottoul hat dem Stimmungsgewitter, das über ihn hereingebrochen ist, getrotzt. Er war standhaft und ist nicht daran zerbrochen. Obwohl er in den letzten Wochen gesundheitlich sehr angeschlagen war.

Anfänglicher Kampf statt Freude

«Die Pandorabox ist endlich zu. Ich möchte sie nicht wieder öffnen. Die Entwicklung geht jetzt in eine gute Richtung», ist er froh und wischt sich die Haare aus dem Gesicht. Viel mehr möchte er zu den «tempi passati» nicht sagen.

Gleichzeitig sieht man seinem feingliedrigen Gesicht noch die Spuren der Geschehnisse in den letzten Monaten an, die ihn offensichtlich verletzten und verstörten. «Wenn man so eine tolle, neue Stelle antreten darf, sollte man vor allem Freude empfinden, und nicht von Anfang an kämpfen müssen.»

Dichtgedrängtes Programm

Er verhehlt auch nicht, dass er sich oft allein gelassen gefühlt habe. Was die Reaktionen in Sozialen Medien angeht, ist er überzeugt: «Man kann nicht jemanden einfach angreifen, den man nicht kennt. Man wollte mich brechen.» Auf Reisen und Konzerten durch Europa sei er sogar angesprochen worden: «Tell me, what’s going on in Switzerland?»

Inzwischen macht Stéphane Mottoul seine Aufgabe als Organist wieder grosse Freude. Am Wochenende hat er ein dichtgedrängtes Programm mit fünf Gottesdiensten, die er musikalisch gestaltet.

Riesig, faszinierend und eine der besten in Europa: Die Hofkirche-Orgel in Luzern.
Riesig, faszinierend und eine der besten in Europa: Die Hofkirche-Orgel in Luzern.

Daneben arbeitet er regelmässig als Repetitor mit dem Chor zusammen. In den Gottesdiensten hat er ein besonderes Faible für traditionelle Kirchenlieder – wie etwa «Es ist ein Ros’ entsprungen». Vor Konzerten übt er bis zu fünf Stunden täglich.

Bach ist Alpha

Sein grösster musikalischer Effort letztes Jahr war die Musik-Reihe «Bach am Hof», als er das komplette Bach-Orgelwerk in 14 Konzerten durchspielte. «Bach ist ein riesiges Forschungslabor. Er ist das Alpha der klassischen Musik, Beethoven ist das Omega.»

Wenn Stéphane Mottoul über Bach redet, gerät er regelrecht ins Schwärmen. «Seine Musik ist so inspiriert, so harmonisch, so beseelt.» Bach sei sicher auch ein gläubiger Mensch gewesen. Wobei Mottoul mit dem Mythos aufräumt, Bach nehme die Rolle des fünften Evangelisten ein.

Stéphane Mottoul ist ein grosser Bach-Liebhaber: In der letzten Reihe "Musik im Hof" spielte er das ganze Orgelwerk von Bach.
Stéphane Mottoul ist ein grosser Bach-Liebhaber: In der letzten Reihe "Musik im Hof" spielte er das ganze Orgelwerk von Bach.

Das Weihnachtsoratorium sei ursprünglich ein Geburtstagsgeschenk für die Königin von Polen gewesen. Der Anteil an religiöser Musik bei Bach an der Orgel liege gerade mal bei zehn Prozent.

Musik kann alles

«Für mich persönlich ist Musik die beste Vermittlung, ich brauche keine Predigt. Musik kann alles – sie ist die grosse Kunst der Spontaneität», sagt er voller Überzeugung. Eine Überzeugung, die authentisch wirkt.

Allerdings findet er, dass das Angebot an Konzerten in Luzern zu gross sei. Man konkurrenziere sich musikalisch sehr stark. Andererseits gebe es im KKL viel zu wenig Orgelkonzerte. «Und das trotz der neuen Orgel dort», so Mottoul. «Die Orgel wird von vielen noch immer als Instrument nur in Verbindung mit der Kirche wahrgenommen. Ich versuche, in erster Linie Musiker zu sein und nicht nur Organist.»

Kulturelle Mischung wichtig

Dabei ist Stéphane Mottoul auch nicht nur Musiker. In seiner Freizeit fährt er gerne mit dem Rennvelo und tritt sportlich bergauf und bergab in die Pedale. Er geht gerne schwimmen. Er verreist gerne und besucht Freunde in Nah und Fern. «Ich fühle mich eigentlich als Europäer und liebe die kulturelle Mischung.»

Erhabenes katholisches Wahrzeichen in Luzern: Die Hofkirche.
Erhabenes katholisches Wahrzeichen in Luzern: Die Hofkirche.

Und wo ist sein Lieblingsplatz in Luzern? Abseits der faszinierenden Hofkirche-Orgel? «Morgens um sieben Uhr auf dem Pilatus – dann kann man nachts zu Fuss hochsteigen und am Morgen die ersten Sonnenstrahlen geniessen.» Oder er bekommt auf dem Berg richtigen Regen zu spüren.

Die Regenmaschine

Künstlich akustisches Nass, das von oben auf die Leute in der Hof-Kirche «herabprasselt», kann Stéphane Mottoul ja täglich per Orgel-Register unterm Dach der Hof-Kirche generieren: dank der «Regenmaschine».

Viele verschiedene Register weist die Orgel auf: die "Regenmaschine" ist der Clou.
Viele verschiedene Register weist die Orgel auf: die "Regenmaschine" ist der Clou.

Eine Holztrommel, mit Orgelwind angetrieben, dreht dabei im Kreis, und die darin eingebrachten Metallkugeln schlagen über Schikanen an die Blechwand der Trommel. Dank des kombinierten Einsatzes dieser Regenmaschine mit den riesigen Pfeifen entstehen ab 1862 legendäre Orgelgewitter in der Hof-Kirche. Mottoul lächelt: «Das hat man eingebaut, um in der Hof-Kirche auch ein bisschen Spektakel zu bieten.»


Musiker und Organist aus Leidenschaft: Stéphane Mottoul, der neue Hofkirche- Organist. | © Wolfgang Holz
21. Februar 2023 | 14:10
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