Wolfgang Sieber war bis vor kurzem Organist der Hofkirche Luzern.
Schweiz

Wer wird Organist am Berner Münster? Petition sorgt für Wirbel

Am Donnerstag soll entschieden werden, wer neuer Organist am Berner Münster wird. Eine Online-Petition macht Stimmung gegen Organisten «ohne lokalen Bezug» auf Prestige-Stellen in der Schweiz. Der Luzerner Katholik Wolfgang Sieber erklärt, warum er mitunterschrieben hat.

Raphael Rauch

Eine Online-Petition macht sich für den Berner Organisten Marc Fitze stark und kritisiert die «schweizerische Praxis, dass attraktive Stellen vorwiegend an nicht vor Ort vernetzte Kirchenmusiker:innen vergeben werden». Warum haben Sie die Petition mitunterschrieben?

Wolfgang Sieber*: Es geht um Sprache, tradierte Bräuche und Entwicklungen in Gesellschaft und Kultur. Da ist eine Akklimatisation der Künstlerinnen und Künstler ganz wichtig. Es ist wie beim Wein: Den Merlot können Sie überall auf der Welt anbauen. Doch es gibt Sorten, die nur unter bestimmten klimatischen Bedingungen gedeihen.

«Diese Person kann nicht eingeflogen werden wie die Berner Bären im Bärengraben.»

Nichts ist internationaler als die Musik.

Sieber: Internationalität ist wichtig, ist der Spiegel zu einem selbst. Aber ein Kirchenmusiker muss mit allen Gruppierungen des Gottesvolkes umgehen können. Die Orgel ist eines der grössten Religionskraftwerke. Ein Kirchenmusiker oder eine Kirchenmusikerin muss genauso gut mit Flüchtlingen interagieren wie mit Guuggenmusikern, Intellektuellen, Lokalgrössen, damit vor Ort jene Individual-Musik zum Individual-Event entsteht, die Erlebnisgewinn bringt. Es geht ja nicht um die ausschliessliche Solo-Karriere, sondern um einschliessende Arbeit mit dem Gottesvolk. Diese Person kann nicht eingeflogen werden wie die Berner Bären im Bärengraben.

Warum ist Marc Fitze für Sie der Richtige?

Sieber: Marc Fitze ist eine empathische, humorvolle und ausgeglichene Persönlichkeit. Er arbeitet «an und für d’Sach, nicht für sich». Er hat zum Beispiel ein Konzert zum Zibelemärit entwickelt und nimmt dort die Rolle des orgelspielenden Schiffskapitäns ein. Und er ist ein begnadeter Organist. So ein Orgel-Troubadur bringt Menschen nicht nur in den «Löie z’Nottiswil», sondern ins Berner Münster.

«Ich kenne mehrere Fälle, wo einheimische, bestens qualifizierte Organistinnen und Organisten nicht gewählt wurden.»

Die Petition schreibt: «In 12 der 15 grössten Deutschschweizer Städte wurden in den letzten 15 Jahren ausländische Organist:innen ohne lokalen Bezug an die Hauptkirche gewählt.» Gäbe es überhaupt genügend Organistinnen und Organisten mit lokalem Bezug?

Sieber: Es ist aus erster Hand belegt, dass sich genügend Schweizerinnen und Schweizer auf der Kandidaten-Liste gewisser Prestige-Stellen befanden. Trotzdem kenne ich mehrere Fälle, wo einheimische, bestens qualifizierte Organistinnen und Organisten nicht gewählt wurden.

Wolfgang Sieber
Wolfgang Sieber

Und warum wurden sie nicht gewählt?

Sieber: Die Findungskommissionen setzen sich zu wenig mit den Menschen auseinander und zu stark mit den Diplomen, den Pflichtdisziplinen. Ganzheitlichkeit ist schwierig zu werten, ebenfalls Persönlichkeitsstruktur, Empathie, emotionale Kraft. Fehler sind besser zu quantifizieren als Kulturkraft und individueller Wille. In den Gremien qualifizieren Verantwortliche mit wenig Ahnung, die hören dann auf die Expertinnen und Experten. Diese sind dann entweder Titulaires anderer Prestige-Stellen und Dozierende oder einander bekannt. So ist ebenfalls belegt, dass die Expertinnen und Experten zum Teil Dozierende des Kandidaten, der Kandidatin sind und sich so ein eher zynisches denn ein sogenannt objektives Wahlergebnis ergibt. Weiter fehlen die erfahrungsrelevanten Probezeiten von mindestens einem und mehreren Jahren.

«Ich verstehe nicht, warum die Anstellungsbehörden die Residenzpflicht nicht stärker verlangen.»

Wenn es um die lokale Verwurzelung geht: Könnte man diese Herausforderung nicht mit einer Residenzpflicht lösen?

Sieber: Ich kenne Fälle, wo der Organist ein paar Tage in der Woche da ist und dann nicht mehr gesehen wird. Ich finde, das geht nicht, und ich verstehe nicht, warum die Anstellungsbehörden die Residenzpflicht nicht stärker verlangen. Ein Organistenjob ist nicht einfach mit Tagespräsenzen zu bewerkstelligen. Man muss doch die Menschen kennen lernen, für die man spielt und mit denen man zusammenarbeitet. Da ist «feu sacré» und Freiwilligkeit gefragt.

Wolfgang Sieber
Wolfgang Sieber

Die etwas provinzielle Diskussion in Bern erinnert mich an eine etwas provinzielle Diskussion in Leipzig: Kann ein Nicht-Thomaner neuer Thomaskantor in Leipzig werden und das Erbe von Johann Sebastian Bach antreten? Trotz Unterschriftenlisten hat sich der Schweizer Katholik Andreas Reize durchgesetzt und wechselte von Solothurn nach Leipzig.

Sieber: Natürlich gibt es Schweizer Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, die eine internationale Karriere geschafft haben wie Alois Koch in den 1990er-Jahren von Luzern an die Hedwigs-Kathedrale in Berlin. Fremde bereichern unser Musikleben ohne Frage. Aber 12 von 15 Prestige-Stellen: Das ist meines Erachtens eine Diskussion wert, vor allem in Bezug auf Identifikationsmuster, schweizerische Ausbildungsstätten, die schweizerische Entwicklung kirchlicher Musik.

Andreas Reize
Andreas Reize

Was machen Schweizer Organisten in Bewerbungsverfahren falsch?

Sieber: Ich meine, dass das Bewerbungsverfahren falsch angelegt ist. Der Faktor Mensch und sein Lokalbezug wird überhaupt nicht beachtet. Da wird jemand eingeflogen, anstatt dass dieser Mensch sich an einer Vorortskirche profiliert und seine Gabe, Kenntnis, sein Können unter Beweis stellt. Heutiges Verhalten ist doch höchst elitär. Und es ist kein Geheimnis, dass ein junger Mensch aus dem Ausland auf den ersten Blick billiger und unkomplizierter ist als jemand um die 40, den man nicht so formen kann und der sich weniger sagen lässt.

Seit Oktober 2021 ist der 30-jährige Stephane Mottoul Organist in der Hofkirche Luzern.
Seit Oktober 2021 ist der 30-jährige Stephane Mottoul Organist in der Hofkirche Luzern.

Was denken Sie über Ihren Nachfolger in Luzern, den Belgier Stéphane Mottoul?

Sieber: Ich bewundere Stéphane dafür, wie er eingestiegen ist: voller Energie und mit Klarheit in der Programmierung. Ich wünsche ihm ganz viel Unterstützung von seinen Mitmusizierenden am Hof. Und natürlich auch von seinem Pfarrer und dem Team. Denn er geht hier noch zur Lehre, muss Erfahrungen und die deutsche Sprache noch besser lernen.

Ein Lokalblatt macht sich über Sie beide lustig: Es gebe einen regelrechten «Pfeifen-Disput». Ihr Nachfolger gestalte diesen Sonntag das «karnevalistische, sonntägliche Frühschoppenkonzert in der Hofkirche – was den Erfinder der Guuggermesse Sieber nicht hinnehmen liess und nun zur gleichen Vormittagszeit in der Lukas-Kirche die ‘Hau den Lukas-Messe’ organisiert».

Sieber: Dass es die Fasnachtszeitung braucht, um den ersten Artikel über uns beide zu machen, ist ein Armutszeugnis für die Luzerner Presse.

Stephane Mottoul ist Organist in der Hofkirche Luzern
Stephane Mottoul ist Organist in der Hofkirche Luzern

Wäre Ihnen ein Schweizer Nachfolger lieber gewesen?

Sieber: Es geht nicht um Schweizer oder Ausländer. Sondern um Identifikation. Ob sich Stéphane mit Luzern identifiziert und Luzern mit ihm, wird sich in drei bis vier Jahre zeigen. Ich weiss, dass unter den Kandidatinnen und Kandidaten auch fähige Schweizerinnen und Schweizer vorhanden waren.

Hat die Petition für Sie nichts Bünzliges, Provinzielles?

Sieber: Ich stehe für Grösse zeigen und Risiko ein. Wenn jemand den ganzen Bach spielt, dann ist das eine grosse Leistung. Aber das heisst noch nicht, dass er die Orgel unter die Menschen gebracht hat.

«Wettbewerb ist sehr okay, wenn es um die besten Köpfe geht.»

Es gibt Prestige-Stellen, zum Beispiel in Solothurn, die zum Teil schlechter bezahlt sind als die von reichen Kirchgemeinden, wo ein Organist weniger Arbeit hat.

Sieber: Einer meiner früheren Verwaltungs-Chefs der katholischen Kirche Luzern sagte mir, ich könne ja von meiner Position her mit Austauschkonzerten den Lohn aufbessern. In Frankreich leben die Titulaires von ihren Konzertengagements, deshalb sind deren Gagen teilweise auch unbezahlbar. Es bleibt festzustellen, dass die Schweizer Löhne um einiges höher sind als anderswo.

Universitäten, Spitäler, Banken: Viele Organisationen in der Schweiz buhlen um die besten Köpfe. Warum sollte die Kirchenmusik eine Ausnahme sein?

Sieber: Wettbewerb ist sehr okay, wenn es um die besten Köpfe geht. Trotzdem traut sich heute keine einzige Findungskommission, eine Berufung auszusprechen, denn Angst geht um. Heute wäre eine Berufung von Hans Vollenweider nicht mehr möglich. Er ist im Alter von 54 Jahren von Thalwil ans Zürcher Grossmünster berufen worden. Weiter weiss ich, dass die Zürcher Oper keine Hornisten zum Probespiel einlädt, welche älter sind als 24. Ein Wettbewerb also, als hätten wir Olympiade!

* Wolfgang Sieber (67) war bis 2021 Stifts- und Hoforganist der Hofkirche in Luzern. Die von den Musikerinnen Vera Friedli und Brigitte Scholl initiierte Online-Petition ist inzwischen vom Netz genommen – um eine «Schlammschlacht zu verhindern», wie es hiess.


Wolfgang Sieber war bis vor kurzem Organist der Hofkirche Luzern. | © Thomas Lang
23. Februar 2022 | 19:05
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