Adrian Holderegger, emeritierter Professor für Moraltheologie und Ethik

Zeit der Ernte: Adrian Holderegger präsentiert eine Bilanz seiner ethischen Überlegungen

Der Schweizer Kapuziner Adrian Holderegger hat 30 Jahre lang an der Universität Freiburg i.Ü. geforscht und gelehrt. 2021 präsentierte der emeritierte Ethik-Professor eine Bilanz seines Schaffens in Buchform. Die «Ethischen Perspektiven» sind ein Plädoyer zugunsten des Menschen in der heutigen Zeit.

Stephan Leimgruber*

In seiner vielseitigen Tätigkeit als Universitätslehrers und engagierter Bürger  hat sich Adrian Holderegger  immer wieder in der politischen Öffentlichkeit als Experte in verschiedener Gremien und insbesondere als «Ambassador for Peace» der UNO zur ethischen Debatte zu Wort gemeldet. Es war ihm wichtig, im Konzert der Meinungen auch  den theologisch-ethischen Diskurs ins Gespräch zu bringen.

Eine vom Glauben getragene Selbstverantwortung

Das Buch enthält eine reiche Ernte seiner Überlegungen  zu ethischen Fragen. Und diese Bilanz fällt nicht wie eine theologische Dogmatik aus, sondern als Plädoyer zugunsten des Menschen in der heutigen Zeit, für seine Freiheit und (politische) Verantwortung, weshalb Gerechtigkeit, Frieden und  Menschenrechte dominierende Werte sind, die unterstützt werden. Es geht Holderegger letztlich um theologische Autonomie, das heisst um eine vom Glauben getragene und von Gott umfangene Selbstverantwortung.

Sehnsucht nach Frieden
Sehnsucht nach Frieden

Im Zentrum des Buches stehen deshalb Fragen zur Menschenwürde, zu Frieden ohne Gewalt, zur Lebensethik und zur Ökologie. Die besondere Herausforderung bestand jeweils darin, theologisch-ethische Grundüberzeugungen in eine Welt hinein zu formulieren, deren ausgeprägte Säkularität und kulturelle Diversität eine zusätzliche Schwierigkeit der Vermittlung bedeuten.

Theoretische und praktische Probleme der Lebensgestaltung

Adrian Holderegger zeigt in sieben Kapiteln ethische Perspektiven auf: im Bereich Religion und Öffentlichkeit, im Disput von Religion und Theologie mit den Naturwissenschaften, in Fragen der Menschenrechte, der Lebensethik, in medizinischen Fragen rund um den Lebensbeginn und das Lebensende, den zukunftsrelevanten Fragen des Friedens und der Ökologie beziehungsweise Klimagerechtigkeit.

Es geht sowohl um eher theoretische als auch um praktische Probleme der Lebensgestaltung auf Zukunft hin, denn der heutigen Menschheit sind grosse Probleme aufgebürdet. Wie ist für Glaubende mit der Säkularisierung umzugehen, wie mit den künstlichen Wegen der Fortpflanzungstechnologie? Was macht einen nachhaltigen Lebensstil aus? Aus jedem Kapitel wurde eine Frage ausgewählt.

Suizidhilfe ja oder nein?

Bereits in den 1970er Jahren hat sich der Kapuziner Adrian Holderegger mit der Frage des Suizids, seinen Ursachen und Wirkungen befasst. Damals galt es noch, die pauschale Verurteilung des Suizids durch die Kirche aufzubrechen. Diese hatte sich einst in den Begräbnissen ausserhalb des Friedhofs manifestiert. Der Verfasser hat für ein Verständnis des Suizids geworben, das als Appell an die Mitwelt verstanden werden konnte.

Exit: aus dem Leben treten
Exit: aus dem Leben treten

Hinzu kam, dass die Biographieforschung an Bedeutung gewann, dass Spiritual Care und  achtsame Sterbebegleitung an Bedeutung gewannen. Aber das Verstörende, sich durch eine Spritze, gereicht von einem Exit-Mitarbeiter, das Leben zu nehmen, verlor nicht seine  Brisanz; ebenso wenig das Hinaustragen des Sarges aus einem Altenheim in der dunklen Nacht. Ganz neue Perspektiven kommen hinzu, wenn der Krankheitsverlauf und die aufgebrauchten Kräfte von schwer erkrankten und verlassenen  Personen ins Spiel kommen.

Sexueller Missbrauch

Adrian Holderegger war als Experte in der Kommission, die den schweren Missbrauch mehrerer Kinder durch einen Kapuzinerpater in der französischen Schweiz aufarbeiten musste. Er war als Berater dem Provinzial zugeordnet und hat dazu mehrere Stellungnahmen und Gutachten verfasst. Im Buch «Ethische Perspektiven» hat er indessen diese Problematik ausgespart, da die einschlägigen Beiträge anderweitig veröffentlicht wurden. Als Nachfolger des umstrittenen Professors Stephan Hubert Pfürtner (1922-2012), der in Freiburg die Gemüter erhitzte, wollte er die Sexualethik nicht zu seinem primären Themenfeld erheben, doch kannte er sich natürlich in den diskutierten Fragen aus.

«Suche Frieden und jage ihm nach»

Die Worte «Suche Frieden und jage ihm nach» aus dem Psalm 34,15 stehen in der Erklärung von Abu Dhabi, die Grossimam Ahmad al-Tayyeb und Papst Franziskus 2019 unterzeichnet haben. Das Friedensproblem ist jetzt mitten in der Ukraine-Krise eine Aufgabe, die weltweite Aufmerksamkeit und ein grosses Engagement der führenden Politiker erfährt.

Ahmad al-Tayyeb, Grossscheich der al-Azhar-Universität, und Papst Franziskus in Abu Dhabi.
Ahmad al-Tayyeb, Grossscheich der al-Azhar-Universität, und Papst Franziskus in Abu Dhabi.

Holderegger hat die Entwicklung des Friedensverständnisses in der katholischen Tradition aufgearbeitet und eingehende Gedanken zum Gewaltverzicht und zum Stellenwert der Religion im Friedensprozess angestellt. Im Weltethos von Hans Küng sieht er kein Patentrezept, sondern eher «ein moralisches Reservoir», eine Vision vom friedlichen Zusammenleben, die an Willen und Verantwortung des Einzelnen und der betroffenen Parteien appelliert.

Stress als Thema der Ethik

Als neues aktuelles Thema enthält das Buch wertvolle Überlegungen zum Stress in seinen Variationen. Stress signalisiert ein Ungleichgewicht zwischen hohen Anforderungen und begrenzten persönlichen Ressourcen. Wichtig zur Bewältigung eines mittleren, mehr oder weniger nötigen Stresses sind Flexibilität und Mobilität, beides Kompetenzen, die  leichter leben lassen. Statt eines technokratischen oder technomorphen Geschäftsmodells plädiert der Ethiker für ein biomorphes Modell. Dieses favorisiert nicht einseitig Effizienz, Produktivität und Beschleunigung, sondern betrachtet das Leben in seiner Bipolarität von  Arbeit und Musse, von Anspannung und Entspannung, wie dies bereits die Regel des heiligen Benedikt im sechsten Jahrhundert tat.

Leidenschaft für Franz von Assisi

Holderegger ist es ein grosses Anliegen, die Schöpfungstheologie und eine Ethik des achtsamen Umgang mit der ganzen Schöpfung zu fördern, wie sie bereits von Franz von Assisi vorgelebt wurde. Er hat 2019 einen ansehnlichen Band mit dem Titel «Leidenschaft für Franz von Assisi» ediert mit spirituellen Impulsen und Inspirationen, die sein Mibruder Anton Rotzetter  ein Leben lang entwickelt hat. Im Bilanzbuch kommen weitere Dimensionen hinzu wie Askese, Nachhaltigkeit, Klimaneutralität und Klimagerechtigkeit.

Franz von Assisi und seine Gefährten, Lateran in Rom
Franz von Assisi und seine Gefährten, Lateran in Rom

Bedenken gegenüber Fortpflanzungsmedizin

Im Zusammenhang mit der Thematik «Ehe für alle» kam es zur Debatte über die ethische Bewertung verschiedener Methoden einer technologischen Fortpflanzung beziehungsweise einer künstlichen Befruchtung. Negative Konsequenzen von Jugendlichen auf der Suche nach ihren Eltern werden einem in den Medien sattsam vor Augen geführt.

Holderegger weiss um die Problematik einer In-vitro-Fertilisation und noch mehr einer heteronomen künstlichen Befruchtung und meldet seine Bedenken dagegen an. Er meint, dass die Natur in ihren Grenzen eine Botschaft für die Menschen bereithält und dass grundlegend über Gesundheit und Krankheit, Lebensqualität und Lebenseinbussen nachgedacht werden muss. Holderegger trat ein für ethische Perspektiven in den aktuellen Fragen der modernen Medizin.

Mitarbeit auf internationaler Ebene

Holderegger hat immer wieder in internationalen Gremien mitgearbeitet, sei es im Weltkirchenrat, an Symposien  in Jerusalem und in Teheran, im Stiftungsrat der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, in der UNO und Unesco sowie an mehreren  Syrienkonferenzen. Die dort gehaltenen Referate kommen im Buch zur Darstellung.

Aber er hat sich immer auch  mit der Gegenwart und Zukunft des eigenen weltweiten Ordens gekümmert und für sein Gedeihen eingesetzt. Hier geht er entschlossenen Schritts in die Zukunft. Das Buch «Ethische Perspektiven» von Adrian Holderegger (2021)  ist eine Fundgrube aktueller ethischer Fragen und verlässlicher Antworten. Es bilanziert jahrelange gedankliche Mühe und Arbeit. Sehr empfehlenswert!

* Stephan Leimgruber (73) ist emeritierter Professor für Religionspädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Priester des Bistums Basel und lebt in Luzern.

«Ethische Perspektiven. Essays, Positionen, Interventionen», Adrian Holderegger, Aschendorff Verlag Münster 2021, 468 Seiten, zirka 75 Franken. Adrian Holderegger war von 1982 bis 2012 Professor für Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz).

Adrian Holderegger, emeritierter Professor für Moraltheologie und Ethik | © zVg
12. März 2022 | 17:54
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