In welche Richtung müssen sich die Landeskirchen verändern? Das ist die grosse Frage.
Schweiz

Wozu braucht es die Freidenker noch?

Zürich, 3.11.17 (kath.ch) «Wozu braucht es die Kirche noch?» Zum Abschluss des Reformationsjubiläums hat Radio SRF 1 in der Sendung «Forum» (2. November) diese Frage gestellt. Diskutiert haben sowohl Kirchenvertreter als auch Freidenker. Ruth Thomas-Fehr, Religionswissenschaftlerin und Vorstandsmitglied der Freidenker Schweiz, findet die Kirche ein überflüssiges Phänomen. Dagegen vertraten Generalvikar Josef Annen aus Zürich und der reformierte Pfarrer Christian Walti aus Bern eine nachvollziehbare Position. «Wahrlich frei wären die Freidenker, wenn sie sich von der Kirche nicht gestört fühlten», meint Francesca Trento in ihrem Kommentar.

Wozu braucht es die Kirche noch? Nur schon diese Frage, wozu es die Kirche denn brauche, zeigt, wie oberflächlich das Thema angegangen wird. Wenn ich fragen würde, «wozu braucht es die Schule noch?», würde mir ein Schwall von Ausrufen entgegenkommen.

Ich frage trotzdem: Wozu braucht es die Schule noch? Sie ist doch lediglich ein Gebäude mit Stuhl und Bank. Sie ist doch nur  ein Gebäude, in das wir unsere Kinder schicken, die tagtäglich den Predigten von Lehrern zuhören und dabei – hoffentlich – etwas lernen.

Die Kirche ist weit mehr als Stuhl und Bank.

Nein, die Schule ist weit mehr als das. Und ebenso die Kirche. Sie ist weit mehr als ein Gebäude, das Dorf und Stadt verschönert. Sie hat weit mehr als Kirchenglocken anzubieten, die manchen den Schlaf rauben. Sie besteht aus mehr als nur Predigten von Pfarrern, die – hoffentlich – den Geist der Kirchgänger etwas berühren.

In der SRF-Diskussionsrunde äusserte sich die Freidenkerin Ruth Thomas-Fehr gegen die Kirchen. Sie habe Freunde, einen Job, Familie und Hobbies. Ihr Leben sei ausgefüllt. «Da haben Kirche und Gott keinen Platz.» Ebenso engagiere sie sich voll und ganz für und im Leben, sie lege viel Wert auf Solidarität, auf den Umgang miteinander und zueinander.

Bei der Freidenkerin fehlte der Respekt.

Doch ist Kirche nicht eben genau das? Eine Gemeinschaft, die solidarisch miteinander lebt? Sich gegenseitig respektiert und achtet? Diesen Respekt jedoch habe ich bei der Freidenkerin gegenüber der Kirche vermisst. Für sie braucht es schlichtweg keine Kirchen. Und das, obwohl sich die Kirchen tagein tagaus für Bedürftige, für Suchende, für Flüchtlinge einsetzen. Und solidarisch für alle da sind – ob jemand Kirchensteuern zahlt oder nicht.

So kritisch wie sich die Freidenker nach aussen geben, so unkritisch sind sie gegenüber sich selbst. Ganz anders verhielt sich in der SRF-Diskussion der reformierte Pfarrer Christian Walti. «Die grössten Kritiker der Kirche sitzen in der Kirche selbst.» Er stehe für eine Kirche, die mit der Zeit geht, sich verändert, sich anpasst, selbstkritisch ist. Kirchenintern gehe ihm der Name «Unruhestifter» nach.

Sowohl er als auch der Zürcher Generalvikar Josef Annen zeigten in der Diskussion weit mehr Achtung gegenüber der jeweilig anderen Meinung als Thomas-Fehr. «Wir sitzen alle im gleichen Boot. Ob Freidenker oder Christ: Wir müssen uns jedoch gegenseitig respektieren und achten», so Annen. So freidenkerisch sich also Freidenker geben, so unfrei sind sie in ihren vehementen Aussagen gegen die Kirche. Wahrlich frei wären die Freidenker, wenn sie sich von der Kirche nicht gestört fühlten.

Kirche als längerer Arm des Sozialstaates

Nun zur Frage, warum es Kirchen überhaupt noch braucht. Hilfsorganisationen wie Caritas, Brot für alle, Fastenopfer oder Missio, die sich seit Jahrzehnten für Bedürftige einsetzen, wären doch Antwort genug. Laut Annen steht Caritas Zürich auf dem Ranking der bedeutendsten Sozialleistungen in Zürich an zehnter Stelle – die AHV an erster. «Die Kirche hilft dort, wo die Arme des Sozialstaates Schweiz nicht hinreichen», so Annen.

Natürlich braucht eine solche Hilfestellung finanzielle Mittel, die durch Kirchensteuern eingeholt werden. Aber die Kirche helfe nicht egoistisch nur Menschen, die Kirchensteuern bezahlen, so Walti. «Sie hilft allen, die Unterstützung brauchen».

Freidenker bald in der Steuererklärung?

Auch die Kirchensteuern sind laut Religionswissenschaftlerin Thomas-Fehr nicht vertretbar. Nur wenn alle Religionen, wie die grossen Kirchen, finanzielle Mittel bekämen, wäre «faire Gleichberechtigung» hergestellt. Vielleicht erhoffen sich die Freidenker mit ihren schweizweit (!) 2000 Mitgliedern ebenso einen Platz in der Steuererklärung.

So wenig wie Freidenker die Kirche respektieren, so stark tun es doch sehr viele Menschen, die sich weder als fromm noch als religiös bezeichnen. Davon sind Annen und Walti aus eigener Erfahrung überzeugt. Auch Studien zur Religionslandschaft Schweiz belegen das diese Erfahrungen. «Obwohl etwa zwei Millionen Menschen in der Schweiz sich als unreligiös bezeichnen und keine Gottesdienste besuchen: Sie treten nicht aus der Kirche aus. Sie bezahlen weiterhin Kirchensteuern. Und das eben, weil sie sehen, respektieren und achten, was die Kirche alles leistet», so Walti.

In welche Richtung müssen sich die Landeskirchen verändern? Das ist die grosse Frage. | © pixabay.com CC0
3. November 2017 | 17:38
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