Der Kirchenrechtler Wolfgang F. Rothe vertritt den Missbrauchsbetroffenen Joseph Henfling.
Kommentar

Wolfgang Rothe: Personelle Konsequenzen wären zu wenig

Das Münchner Missbrauchsgutachten zeigt: Die gleichzeitige Überhöhung und Tabuisierung von Sexualität schafft eine gefährliche Spannung, die sich nur allzu leicht unkontrolliert entlädt. Es reicht nicht, sich auf Personen zu konzentrieren. Ein Gastkommentar.

Wolfgang F. Rothe*

Das Erzbistum München und Freising hat Mut bewiesen: Es hat an der Erstellung eines Missbrauchsgutachtens durch die Kanzlei Westphal Spilker Wastl festgehalten – und tatsächlich veröffentlichen lassen. Im Erzbistum Köln war das anders. Auch dort hatte man die Kanzlei Westphal Spilker Wastl beauftragt, ein Missbrauchsgutachten zu erstellen, das fertige Gutachten aber nicht veröffentlicht – angeblich wegen «äusserungsrechtlicher Bedenken», also handwerklicher, juristischer Mängel. 

Ursachen und Risikofaktoren in den Blick nehmen

Der eigentliche Grund dürfte aber ein anderer gewesen sein: Die Kanzlei Westphal Spilker Wastl hat sich in ihrem Kölner Gutachten dem Vernehmen nach nicht auf rein juristische Aspekte beschränkt, nicht auf Fakten, Zahlen, Geschädigte und Täter, sondern auch die Ursachen und Risikofaktoren von Missbrauch und Vertuschung im kirchlichen Kontext in den Blick genommen. Und zu diesen Ursachen und Risikofaktoren gehört nicht zuletzt die kirchliche Sexualmoral. Die schien und scheint der Kölner Erzbischof partout nicht auf den Prüfstand stellen zu wollen.

Protest gegen den Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch.
Protest gegen den Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch.

Diese Sexualmoral ist aber ein wichtiger, wenn nicht sogar der entscheidende Machtfaktor im System der katholischen Kirche. Und dieser Machtfaktor ist zugleich ein erheblicher Risikofaktor. Das hat die Kanzlei Westphal Spilker Wastl im Münchner Missbrauchsgutachten einmal mehr deutlich zur Sprache gebracht. Die gleichzeitige Überhöhung und Tabuisierung von Sexualität schafft nämlich eine gefährliche Spannung, die sich nur allzu leicht unkontrolliert entlädt. 

Nichtwahrhabenwollen, Wegsehen und Vertuschung

Darüber hinaus bereitet die «negative und pessimistische Sicht auf Sexualität», wie es im Gutachten wörtlich heisst, «innerhalb der Kirche und für deren Leitungsverantwortliche grosse Schwierigkeiten, das Geschehene in Worte zu fassen», führt also fast automatisch zu Nichtwahrhabenwollen, Wegsehen und Vertuschung.

Insofern wäre es fatal, wenn sich die Konsequenzen aus dem Münchner Missbrauchsgutachten auf bestimmte Personen konzentrieren und beschränken würden – Personen, auf die, wenn auch verständlicherweise, momentan der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerichtet ist. 

Die Ursachen in den Blick nehmen

Solange die Ursachen und Risikofaktoren von Missbrauch und Vertuschung nicht in den Blick genommen und auf den Prüfstand gestellt werden, bleiben alle Beteuerungen, man wolle künftig mehr die Betroffenen in den Blick nehmen, und ebenso auch alle noch so gutgemeinten Bemühungen um Prävention reine Illusionen.

* Wolfgang F. Rothe ist Kirchenrechtler und Pfarrvikar im Münchener Pfarrverband Perlach. Er wurde von der Opus-Dei-Universität Santa Croce promoviert.


Der Kirchenrechtler Wolfgang F. Rothe vertritt den Missbrauchsbetroffenen Joseph Henfling. | © zVg
21. Januar 2022 | 13:49
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