Schweizer Pilger mit Wurzeln in Sri Lanka
Schweiz

«Wir sind stolz darauf, dass ein Schweizer heilig ist!»

Flüeli-Ranft OW, 26.5.17 (kath.ch) Sie kommen aus allen Ecken der Schweiz, manche haben Wurzeln in Sri Lanka, Bolivien oder Uruguay. Sie suchen Frieden, stärken sich an der spürbaren Präsenz des Heiligen oder geniessen schlicht die schöne Natur. kath.ch hat in der Ranftschlucht Pilger gefragt, was sie hier suchen. Und erstaunliche Glaubenszeugnisse gefunden.

Sylvia Stam

Wer heute beim Eremiten in Flüeli-Ranft Stille und Einkehr sucht, findet sie kaum. Hunderte von Pilgern zieht es an diesem sonnigen Auffahrtstag in die Ranftschlucht. Allein 500 sind aus Basel angereist, die Nummernschilder der Cars auf dem Dorfparkplatz verweisen auf den Jura, Freiburg, Solothurn, das Fürstentum Liechtenstein und Italien.

Auf den paar hundert Metern vom Dorfplatz in die Schlucht hinunter sieht man indische Menschen in farbigen Kleidern und Ordensschwestern in dunkler Tracht, Familien mit Kinderwagen, Betagte am Stock, einer gar am Rollator.

Warum aber pilgern Menschen an diesen Ort, wo vor 600 Jahren ein Eremit lebte? Die simple Frage der Journalistin öffnet unerwartet Türen: Bereitwillig erzählen Menschen in allen drei Landessprachen aus ihrem Leben, von Familienglück und Familiendramen, von ihrer Suche nach Frieden, der Bitte um Beistand oder der Erinnerung an verstorbene Familienmitglieder.

Bruder Klaus hat geholfen

«Ich muss einfach kommen! Niklaus von Flüe gibt mir Kraft. Diese ganze Gegend hier gibt mir Kraft», erzählt eine blonde Rentnerin aus Moutier BE, die auf einem der zahlreichen Bänklein auf dem Weg in die Schlucht einen Zwischenhalt eingelegt hat. Sie kommt immer wieder hierher, erzählt die ganze Lebensgeschichte des Heiligen im Detail. Und erwähnt, wie sie einst auf einem steilen Umweg auf der Alp Chlisterli gelandet sei, dort, wo Niklaus von Flüe sich versteckt habe, ehe er Eremit wurde. Es steht für sie ausser Zweifel, dass sie diesen äusserst anstrengenden Weg nur dank der Hilfe des Heiligen so mühelos zurücklegen konnte.

«Ich glaube das, ich bin katholisch!»

Der gepflasterte Weg hinab in die Schlucht führt um eine Kurve, dann kommt die obere Ranftkapelle mit der Klause des Heiligen in Sicht. In der Klause ist an diesem Tag kein Durchkommen. Der Devotionalienladen im Chalet, das etwas unterhalb liegt, ist aufgrund des grossen Andrangs ausnahmsweise auch über Mittag geöffnet.  Auf den Bänklein davor geniessen einige den Schatten. So die beiden Frauen aus Lateinamerika, die mit der Wallfahrt der katholischen Kirche Basel-Stadt angereist sind.

Pilgerinnen aus Lateinamerika

Für die Bolivianerin (70), die seit vielen Jahren in Basel lebt, war Niklaus von Flüe «eine imposante Persönlichkeit». Wie er gelebt hat, beindruckt sie, doch ebenso wichtig sei dessen Familie, die ihm den Rückzug ermöglichte, wie sie betont. Sie legt ihre Hand an die Brust und sucht nach Worten, um das, was sie hier empfindet, zu erklären. «Man spürt den Frieden dieses Ortes», sagt sie schliesslich und lächelt.

Pilgerinnen mit Wurzeln in Bolivien (l) und Uruguay (r) | © Sylvia Stam

Ihre Kollegin (68), ursprünglich aus Uruguay, erzählt in lebhaftem Italienisch vom Fasten des Heiligen. «Es ist unglaublich, wie er ohne Nahrung leben konnte! Für viele ist das etwas ambivalent, aber ich glaube das, ich bin katholisch. Er hat nur von der Hostie gelebt!», sagt sie mit einer Überzeugung, die keinerlei Zweifel aufkommen lässt.

Eine Frau in Wanderschuhen steht daneben und packt etwas in ihren Rucksack. «Ich versuche, jedes Jahr einmal hierher zu kommen», erzählt die 64-Jährige Kölnerin, sichtlich erfreut über das Interesse der Journalistin. Ihr Budget lasse das leider nicht immer zu. Sie schöpft hier Kraft und Ruhe, und das gelingt ihr selbst an einem Tag wie diesem.

«Manchmal muss man tief hinuntersteigen.»

«Manchmal muss man tief hinuntersteigen, um auf den Grund zu kommen und sein Innerstes zu finden», erklärt sie die Faszination des Ortes. Und fügt etwas leiser hinzu: «Ich bin glücklich, dass meine Familie in Frieden lebt. Das war nicht immer so. Ich danke Bruder Klaus dafür, dass das jetzt so ist.» Sie wischt sich ein paar Tränen weg und ergänzt, dass sie auch in schwierigeren Zeiten hier war, um ihn um seine Hilfe zu bitten. «Er ist bei uns», sagt sie schliesslich mit Bestimmtheit. Ehe sie sich wieder auf den Weg macht, zeigt sie ein paar Steine, die sie in der Melchaa, dem Bach durch die Schlucht, gefunden hat. «Schauen Sie, sieht das nicht aus wie ein Herz?»

Pilgerin aus Köln mit einem Stein aus der Melchaa | © Sylvia Stam

Heiligenverehrung ist eine Gratwanderung

Vor der unteren Ranftkapelle führt die Frage der Journalistin zu einer angeregten Diskussion über konfessionelle Unterschiede. Eine Gruppe aus der Nähe von Bern, die in Sachseln campiert, ist «aus touristischen Gründen» in den Ranft gekommen. Als Reformierte würden sie keine Heiligenverehrung kennen, sagt eine 45-jährige Frau, es gehe ihnen vielmehr um die Beziehung zu Gott. «Es ist eine Gratwanderung», wirft eine junge Frau ein: «Beten wir einen Menschen oder Gott an?» Dennoch scheinen sie sich einig zu sein, dass sich Gottes Wirken durch Niklaus von Flüe zeige.

«Wir brauchen keinen Ort, um Gott zu empfinden.»

«Wir würden auch nie sagen, dass wir pilgern gehen», meint eine 42-Jährige, die im Rollstuhl sitzt, eher gingen sie in die Stille. – «Man kann Gott überall empfinden, wir brauchen keinen Ort dafür», bringt es ein junger Mann, der ebenfalls zu dieser Gruppe gehört, auf den Punkt.

In der unteren Ranftkapelle ist es an diesem Tag angenehm kühl. Obschon einige kniend beten, referieren Gruppenführer über das Leben von Bruder Klaus. Die Statue des Heiligen ist ein beliebtes Fotosujet, manche schreiben ein paar Zeilen ins Fürbittbuch: «Bruder Klaus, ich bitte dich für alle, die in der CH leben, egal, welche Nationalität», heisst es da. «Pace a tutti» (Frieden für alle) schreibt ein anderer, oder: «Segne meine Familie».

Kerzenständer ist voll

Die Anliegen, für welche die Menschen beten, sind oft auch erfrischend bodenständig: Votivtafeln zeugen vom Dank für eine gelungene Abschlussprüfung, der Verkäufer im Devotionalienladen erzählt von einem jungen Paar, das Kerzen für einen guten Alpsommer kaufte, eine Frau aus Beckenried NW zündet heute eine Kerze an, «damit bei unserer Haus-Aufrichte nächste Woche alles gut geht».

Volle Kerzenkasten | © Sylvia Stam

Bereits am Mittag sind die beiden Kästen mit den Kerzen vor der Klause des Heiligen voll. Doch François Schubiger von der Gemeinschaft Chemin-Neuf, die den Devotionalienladen betreibt, weiss Abhilfe: «Sie können die Kerzen hier kaufen und wir zünden sie morgen an», sagt er zu der Bündner Kundin, die prompt fünf Kerzen bezahlt.

Erdbeben im Wallis

Eine Frau aus Sierre VS hat für ihren Enkel ein Kreuz aus farbigem Glas erworben, an dessen unterem Ende ein Weihwasserbehälter befestigt ist. Ihre Verbindung zu Bruder Klaus reicht weit in ihre Kindheit zurück: Im Jahr 1946 erlebte sie das Erdbeben im Wallis. «Alle beteten in dem Moment zu Niklaus von Flüe», erzählt sie mit vielsagendem Blick. Sie hat aus diesem Erlebnis einen tiefen Glauben mitgenommen. «Ich war damals fünf Jahre alt. Niklaus von Flüe ist für mich seither immer der gute Schutzpatron, ich hatte nie Angst.» Und sie erzählt in blumigem Französisch, wie ihre Familie ein Modell der Ranftschlucht aus Pavatex nachgebildet habe, für den Fronleichnamsumzug.

«Sich zu pflegen ist ein Weg, um Gott zu danken.»

«Hören Sie diese Stille, diese Vögel!», sagt sie mit einem Mal. Sie sei ein gläubiger Mensch, erklärt sie eindringlich, Gott spreche aus allen Dingen zu ihr. Und umgekehrt könne auch alles Gebet sein: Gedanken, Tanz, Gesang. Sie unterstreicht ihre Worte mit eleganten Handbewegungen, ihre langen roten Fingernägel sind mit feinen Silberlinien verziert. «Sich zu pflegen ist auch ein Weg, um Gott zu danken», sagt sie, als sie den Blick der Journalistin bemerkt.

Walliser Pilgerin im Ranft | © Sylvia Stam

Der Ranft genügt

Dass Niklaus von Flüe Menschen unabhängig von Alter, Herkunft und Hautfarbe beeindruckt, bezeugen drei junge Frauen aus Sri Lanka. «Es ist erstaunlich, wie Niklaus von Flüe gelebt hat, mit zehn Kindern», sagt eine 17-Jährige mit langen schwarzen Zöpfen auf Schweizerdeutsch. Die Katholikin mit Schweizer Pass ist mit ihrem Vater und zwei Verwandten (15 und 16) angereist. Der Ort sei «mega schön», bestätigen letztere, das Wohnhaus sei cool. Und lachend fasst eine zusammen, was für alle vier offenbar besonders wichtig ist: «Wir sind stolz darauf, dass ein Schweizer heilig ist!»

Fahnen zum Jubiläumsjahr 600 Jahre Niklaus von Flüe | © Sylvia Stam

Der Weg zurück ins Dorf verläuft ruhiger. Oben angekommen, fällt der Blick auf drei Fahnen, sie erinnern an den Trägerverein «Mehr Ranft», welcher zum Jubiläumsjahr zahlreiche Veranstaltungen durchführt. Doch ein Tag wie dieser zeigt: Der Ranft genügt. Es braucht nicht mehr.

Schweizer Pilger mit Wurzeln in Sri Lanka | © Sylvia Stam
26. Mai 2017 | 11:33
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Pilger im Ranft

Jährlich kommen rund 100’000 Pilgerinnen und Pilger in die Ranftschlucht, wie das Wallfahrtssekretariat in Sachseln OW schätzt. Spitzenzeiten seien vor allem Wochenenden und Feiertage sowie die Monate Mai, Juni, September und Oktober. Die Pilger kämen vor allem aus der Schweiz sowie aus dem süddeutschen Raum.

Gemäss der Wahrnehmung von François Schubiger, der als Mitglied der Gemeinschaft Chemin-Neuf im Devotionalienladen in der Ranftschlucht aushilft, ist die Bandbreite der spirituellen Ausrichtung der Pilger sehr gross: die konservativen Piusbrüder kämen ebenso zum Eremiten wie liberale Katholiken, Reformierte und sogar Andersgläubige.

Im diesjährigen Jubiläumsjahr zum 600. Geburtstag von Niklaus von Flüe sind die Pilgerzahlen laut Wallfahrtssekretariat besonders hoch. Viele Pfarreien, die noch nie oder schon lange nicht mehr auf Wallfahrt bei Bruder Klaus waren, nutzten das Gedenkjahr dazu. Das Jubiläum löse auch in der Romandie und im Tessin ein grosses Echo aus. Aufgrund der hohen Besucherzahlen seien dieses Jahr das Wohn- und das Geburtshaus an Wochenenden auch über Mittag offen. (sys)