Der isländische Regisseur Rúnar Rúnarsson
Schweiz

«Wir haben gemeinsame mitmenschliche Fundamente»

Mit dem Film «Echo» hat der isländische Regisseur Rúnar Rúnarsson einen Weihnachtsfilm für die spätmoderne Gesellschaft geschaffen. Er erhielt dafür im November den kirchlichen Preis der Interfilm-Jury in Lübeck. Zum aktuellen Schweizer Kinostart hat kath.ch mit dem Regisseur über Mitmenschlichkeit, Werte und Smartphones im Film gesprochen.

Charles Martig

Sie haben an den Nordischen Filmtagen in Lübeck den Preis der Interfilm-Jury erhalten. Was bedeutet Ihnen diese kirchliche Auszeichnung?

Rúnar Rúnarsson: Ich bin wirklich glücklich, dass ich diesen Preis erhalten habe. Was ich in meinem Film «Echo» behandle, sind Aspekte der Mitmenschlichkeit. Unabhängig von der Religion, der wir angehören, gibt es mitmenschliche Fundamente, die uns gemeinsam sind. Wir sollten viel mehr betonen, was uns vereint, als das, was uns entzweit.

Szene aus dem Film "Echo"
Szene aus dem Film "Echo"

Ist «Echo» der ultimative Weihnachtsfilm für die spätmoderne Gesellschaft?

Rúnarsson: Diese Frage müssten eigentlich die Zuschauenden beantworten. Diese Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ist wie ein Verstärker in unserer Gesellschaft: Unsere Gefühle, unsere Art des Sehens verändert sich. In der Weihnachtszeit tendieren wir dazu, menschlicher zu sein. Am Ende des Jahres gibt es diesen Übergang vom Alten zum Neuen. Es ist eine Zeit des Nachdenkens und der Reflektion.

Der Hauptdarsteller ist die moderne Gesellschaft.

Worum geht es in Ihrem Film?

Rúnarsson: Der Hauptdarsteller ist die moderne Gesellschaft. Ich habe 58 Fragmente aus unserem Leben in dieser Gesellschaft zusammengestellt und gebe damit die Möglichkeit, darüber nachzudenken, wie wir leben. Die Darstellerinnen und Darsteller im Film sind alle Laien, die in einem Mix aus Fiktion und Dokumentarfilm spielen.

Videotrailer zum Film «Echo»

Was bedeutet der Titel «Echo»?

Rúnarsson: Was Sie im Kino sehen, ist meine Sicht auf die Dinge. Ich zeige Szenen, die meiner authentischen Perspektive entsprechen. Dies muss jedoch nicht die Wahrheit sein. Deshalb habe ich Bruchstücke aus dem Leben in Island gewählt. Ich verstehe sie als ein Echo auf die Realität, die wir um uns wahrnehmen. Ich hoffe, dass dadurch auch universelle Themen berührt werden.

Was war Ihre Inspiration für den Film?

Rúnarsson: Es gibt so viele schöne Seiten des alltäglichen Lebens, die aber auch tragisch sein können. Diese verschiedenen Aspekte habe ich versucht in meiner Doku-Fiktion zu vereinen.

Es gibt diese Debatte zwischen Altem und Neuem in jeder Generation.

Es existiert eine grosse Spannung zwischen traditionellen Werten und säkularer Gesellschaft. Sie schneiden beispielsweise von einem Krippenspiel auf einen Bodybuilding-Wettbewerb. Das wirkt provokativ. Was ist Ihr Standpunkt als Filmschaffender zu dieser Spannung?

Rúnarsson: Es gibt diese Debatte zwischen Altem und Neuem in jeder Generation. Althergebrachte Werte haben einen eigenen Stellenwert, doch wir sollten uns auch entwickeln. Die meisten Dinge haben mehr als eine Oberfläche. Mobiletelefone haben zum Beispiel die Möglichkeit, uns voneinander zu distanzieren. Dieselbe Technologie kann jedoch auch benutzt werden, um Menschen zusammenzubringen.

Sie zeigen in vielen Szenen Menschen an einem Smartphone, die mit einem unsichtbaren Gegenüber sprechen, währenddem sie allein auf der Leinwand sind. Wieso ist das im Film wichtig?

Rúnarsson: Es handelt sich um ein doppelseitiges Schwert. Die Darstellung von Menschen am Mobiltelefon unterstreicht die Einsamkeit und die menschliche Distanz. Ich habe einige Jahre in Dänemark gelebt und mit meiner Familie in Island über Skype den Kontakt gehalten. Das verbindet zwar, unterstreicht aber ab einer gewissen Häufigkeit die Distanz zur Familie. Es gibt im Leben nicht nur Schwarz oder Weiss. Mich interessieren vor allem die Grautöne dazwischen.

Wir beurteilen Erlebnisse immer gemäss dem, was wir sehen.

In einer Szene des Films startet eine junge Frau einen Facebook-Livestream mit ihrem Mobilgerät. Damit wird ein Konflikt zwischen Frau und Mann beim Parkieren auf der Strasse ausgetragen. Was hat Sie zu dieser Szene inspiriert?

Rúnarsson: Was mich hier interessiert, ist das Davor und Danach. Wir beurteilen Erlebnisse immer gemäss dem, was wir sehen. Aber es gibt immer auch einen Prolog und einen Epilog. Wir sind stets sehr schnell mit unserem Urteil, können aber nicht sehen, wie es zu diesem Konflikt kam. Es fehlt der Kontext. Das ist übrigens auch ein grosses Problem in den Sozialen Medien. Auch hier sieht man nur Bruchstücke. Wir sind sehr schnell bei einem Urteil angelangt und reagieren dann unvermittelt.

Szene aus dem Film "Echo"
Szene aus dem Film "Echo"

Sie möchten also den Rahmen sprengen?

Rúnarsson: Ja, es gibt so viele Beschuldigungen im Internet. Mich interessiert aber der Dialog darüber. Gibt es mehr dazu zu erzählen? In der modernen Gesellschaft sind wir sofort bei einer symbolischen Vernichtung von Menschen, statt abzuwarten und zu fragen, ob wir das gesamte Bild sehen.

Menschen können die Stille nicht mehr wahrnehmen.

Wie beurteilen Sie die Kommunikation mit Smartphones?

Rúnarsson: Es gibt viel Lärm in unserer Gesellschaft. Menschen können die Stille nicht mehr wahrnehmen. Wenn es einen ruhigen Moment gibt, nehmen die Leute ihr Smartphone zur Hand. Aus der Technologie entstehen grossartige Dinge, aber auch schlechte Entwicklungen sind sichtbar. Wir sollten uns mehr mit den Folgen beschäftigen und entscheiden, welche Rolle die Technologie in unserem Leben spielen soll.

Es gibt auch andere kritische Punkte, die Sie im Film aufzeigen. In einer Szene geht es um das Kirchenasyl: Flüchtlinge werden von der Polizei mit Gewalt aus der Kirche geholt. Verfolgen Sie damit eine politische Absicht?

Rúnarsson: Natürlich zeige ich auch kritische Aspekte der Gesellschaft. Ich verstehe dies aber nicht primär als politische Kritik. Es liegt mir nicht zu predigen. Meine Erfahrung aus den politischen Kurzfilmen, die ich gemacht habe, war sehr ernüchternd. Sie wurden nur von Leuten geschaut, die gleicher Meinung waren wie ich.

Wie hat sich ihre Erzählhaltung verändert?

Rúnarsson: Sobald ich in meine Innenwelt ging und Erfahrungen aus meinem persönlichen Umfeld einbezog, hat sich meine Haltung verändert. Ich versuche ehrlich zu mir selbst zu sein und damit auch aufrichtig zum Publikum. Das hat viele Menschen bewegt. Somit kann mein Filmschaffen auch das Leben der Zuschauenden verändern.

Filmbesprechung siehe: https://www.medientipp.ch/events/echo-bergmal/

Der isländische Regisseur Rúnar Rúnarsson | © Xenix Filmdistribution GmbH
27. Dezember 2019 | 09:13
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!

Kirchlicher Preis für «Echo»

Die evangelische Interfilm-Jury hat dem Film «Bergmál» (Echo) von Rúnar Rúnarsson (Island, Frankreich, Schweiz 2019) ihren Preis an den Nordischen Filmtagen Lübeck am 3. November verliehen. Laut Begründung der Jury handle es sich um einen «Film, der in einer innovativen Sprache in vielen kleinen Geschichten vom menschlichen Leben erzählt. Der Film erinnert uns daran, dass jeder Mensch Beziehung, Verständnis, Vergebung und Liebe braucht.»

Der Film wurde als Weltpremiere am diesjährigen Locarno Film Festival gezeigt. Der Schweizer Kinostart liegt zwischen Weihnachten und Neujahr und spiegelt damit die Erzählzeit dieser Doku-Fiktion wider. (cm)