Wie lange will Gott noch Brasilianer sein? Religiöse Vielfalt und Intoleranz in Brasilien

Jahrhundertelang war die katholische Kirche in Brasilien die Nummer 1. Afrobrasilianische und indigene Religionsgemeinschaften prosperierten daneben in friedlicher Koexistenz. Bedrohen die Evangelikalen nun diesen Religionspluralismus? Und welche Rolle spielt der amtierende Präsident Jair Bolsonaro?

Natalie Fritz

Warum liegt der Papstsitz eigentlich nicht in Rio de Janeiro oder São Paulo? Für den aktuellen Papst wäre es nur ein kurzer Umzug ins Nachbarland gewesen und trotz einer stetig abnehmenden Zahl Gläubiger ist Brasilien weltweit immer noch das Land mit den meisten Katholikinnen und Katholiken. Nicht umsonst heisst es dort: «Gott ist ein Brasilianer». Wobei mehrere Sozialwissenschaftlerinnen und Demografen prophezeien, dass der Anteil katholischer Gläubiger weiter rasant abnehmen wird.

Weniger Gläubige, weniger Macht

Seit 1985 ist ihre Anzahl von stattlichen 83 Prozent auf relativ bescheidene 50 Prozent zusammengeschrumpft. Zwar lebten in Brasilien verschiedene Religionsgemeinschaften meist ziemlich friedlich nebeneinander, die Vormachtstellung der katholischen Kirche war jedoch stets eindeutig und politisch legitimiert. Umgekehrt unterstützte die Kirche die Politik der portugiesischen Kolonialherren. Weshalb bröckelt heute die Macht der katholischen Kirche in Brasilien?

Der grösste katholische Wallfahrtsort Brasiliens: Kathedralbasilika Nossa Senhora da Conceição Aparecida.
Der grösste katholische Wallfahrtsort Brasiliens: Kathedralbasilika Nossa Senhora da Conceição Aparecida.

Brasilien ist längst keine portugiesische Kolonie mehr. Gerade eben, am 7. September 2022, jährte sich die Unabhängigkeit des grössten südamerikanischen Landes zum 200. Mal. Aber die Befreiung aus der kolonialen Herrschaft erklärt den massiven Mitgliederschwund der katholischen Kirche in Brasilien nicht. Auch die unzähligen indigenen Gruppen, die (noch) nicht zum christlichen Glauben bekehrt worden sind oder trotz Missionierung ihre religiösen Traditionen weiterleben, bedrohen die Vormachtstellung der katholischen Kirche in Brasilien nicht. Zumal die Kolonialherren im 16. Jahrhundert die religiöse Vielfalt durch die Einfuhr von afrikanischen Sklaven ungewollt förderten.

Diese afrikanischen und indigenen Arbeitskräfte wurden in Brasilien zwar katholisch (zwangs-)getauft, lebten ihre ursprünglichen religiösen Traditionen jedoch heimlich weiter aus. Es entstanden neue religiöse Bewegungen, die traditionelle indigene oder afrikanische Traditionen mit katholischen Riten und Legenden verbanden.

Candomblé-Zeremonie auf der Insel Itaparica, 2. Februar 2011
Candomblé-Zeremonie auf der Insel Itaparica, 2. Februar 2011

Der Candomblé und die Umbanda sind heute die bedeutendsten Formen solcher afrobrasilianischer Religionsneuschöpfungen. Je nach Region werden im Candomblé und in der Umbanda auch indigene Vorstellungen eingewoben.

Candomblé und Umbanda – Nächstenliebe über den Tod hinaus

Orixás im Candomblé Nagô da Bahia
Orixás im Candomblé Nagô da Bahia

Beide Religionen orientieren sich an der westafrikanischen Yoruba-Kultur. Im Candomblé werden Orixás, vergöttlichte Naturkräfte, verehrt.

Ihnen werden Opfer dargebracht. In Trance kann ein Orixá Besitz von einer Person ergreifen und sich so offenbaren. Jeder Mensch hat mindestens zwei Orixás, die ihn begleiten und schützen – ähnlich einem Schutzheiligen oder -engel. Die Verbindung zwischen christlichen und afrikanisch-animistischen Elementen trägt dazu bei, dass viele Candomblé-Anhängerinnen und Anhänger sich – mindestens nominell – als katholisch einschätzen.

Die eine Zugehörigkeit schliesst die andere nicht aus. Man kann am Sonntag den katholischen Gottesdienst in der Kirche besuchen und in der gleichen Woche einem Ritus im Tempel, der sogenannten casa oder dem terreiro, beiwohnen.

Candomblé Tempel Pernambuco
Candomblé Tempel Pernambuco

Die Umbanda ist erst anfangs des 20. Jahrhunderts in Rio de Janeiro entstanden. Sie verbindet ebenfalls Elemente aus der Yoruba-Kultur wie die Orixás mit katholischer Heiligenverehrung, der Kabbala und esoterischen sowie indigenen Vorstellungen.

Anders als im Candomblé wird in Umbanda-Ritualen portugiesisch gesprochen und gesungen. Die Umbanda propagiert eine neue Menschlichkeit jenseits von Rasse und Klasse und Nächstenliebe über den Tod hinaus. Dies ist sicher einer der Gründe, weshalb diese genuin brasilianische Religion auch Anhänger in Uruguay und Argentinien hat.

Maria da Guia, Medium des terreiro Tenda Espírita Vovó Maria Conga de Aruand
Maria da Guia, Medium des terreiro Tenda Espírita Vovó Maria Conga de Aruand

Kardecismus – Reinkarnation und moralische Reifung

Anders verhält es sich mit der spiritistischen Lehre des Kardecismus. Sie hat nur in Brasilien den Status als autonome Religion. Nach den Lehren des französischen Esoterikers und Spiritisten Allan Kardec beschwören die Anhängerinnen und Anhänger in Séancen Geister.

Briefmarke mit Allan Kardec-Portrait, 1969
Briefmarke mit Allan Kardec-Portrait, 1969

Diese können sich dann in sogenannten Medien inkarnieren und durch sie sprechen. So können die Geister mit den Lebenden in Kontakt treten und sie auf den richtigen Weg leiten. Stufenweise entwickelt sich so das Individuum vom einen zum nächsten Leben moralisch weiter. Diese Aussicht scheint vielen Menschen in Brasilien Hoffnung und Halt zu schenken, geben doch um die 2 Prozent der Bevölkerung an, eine Form des Spiritismus zu praktizieren.

Die evangelikalen Problemlöser in der Favela

Brasilien scheint die Religionsfreiheit – sie ist in einem offiziellen Dekret aus dem Jahr 1823 festgehalten – tatsächlich zu leben. Den jahrhundertelangen Missionsbemühungen der katholischen Kirche – insbesondere der Jesuiten – zum Trotz, koexistieren hier verschiedenste Religionstraditionen nebeneinander. Die katholische Kirche hat sich längst damit arrangiert, dass viele Brasilianerinnen und Brasilianer ihren Glauben «plural» leben; die Missionsbemühungen sind nur noch minimal. Die progressive und bisweilen oppositionelle Haltung während des Militärregimes in Brasilien hat die katholische Kirche heute weitgehend eingebüsst. Dadurch hat sie in der Gesellschaft an Rückhalt und in der Politik an Einfluss verloren.

Tempel der Assemblea de Deus, Rio Grande do Norte
Tempel der Assemblea de Deus, Rio Grande do Norte

Seit den 70ern übernehmen immer häufiger evangelikale Gemeinschaften und Kirchen die Rolle als Helfer in der Not, als Unterstützer der Randständigen und Indigenen, der Perspektivlosen und Gewaltbetroffenen in den Favelas oder entlegenen Gebieten. Also dort, wo es kaum staatlichen Beistand gibt.

Diese Arbeit ist wichtig, nicht nur für die Hilfesuchenden, sondern auch für die evangelikalen Kirchen. So bringen sie ihre Vision von einem besseren Leben direkt unter die unterprivilegierte Bevölkerung. Man könnte man diese Weltsicht als eine «Do ut des»-Weltsicht beschreiben: Gott zu lieben, bedeutet Hingabe, auch finanziell. Er wird es mit Wohlstand – auch im materiellen Sinne – vergelten.

Catedral Mundial da Fé der Igreja Universal in Rio de Janeiro
Catedral Mundial da Fé der Igreja Universal in Rio de Janeiro

Dieses Wohlstandsevangelium, das in Brasilien insbesondere Neupfingstkirchen predigen, zieht nicht nur bei Menschen der unteren Gesellschaftsschichten: Spenden und dafür Seelenheil und ewige finanzielle Sicherheit erhalten, das klingt für viele Ohren gut. Und die evangelikalen Kirchen sind medial up-to-date und verbreiten ihre Inhalte sehr effizient über eigene Radio- und TV-Stationen, übers Internet und die sozialen Medien.

Neue religiös-politische Seilschaften

Mittlerweile zählen 31 Prozent der Bevölkerung zu einer evangelikalen oder pfingstkirchlichen Gemeinschaft. Darunter sind viele Katholikinnen und Katholiken, die in evangelikalen Kirchen ihr Bedürfnis nach einer persönlichen Gottesbeziehung leben können. Für eine solche Gottesbeziehung ist ein aktiv gelebter Glaube essenziell; ein nominelles «Gläubigsein» reicht nicht.

Gottesdienst in der Catedral Munidal da Fé in Rio de Janeiro
Gottesdienst in der Catedral Munidal da Fé in Rio de Janeiro

Viele evangelikale Gläubige engagieren sich freiwillig. Dieses Engagement trägt Früchte. Die drei grossen evangelikalen Kirchen Igreja Universal do Reino de Deus (Universalkirche des Königreichs Gottes), die Assembleia de Deus (Versammlung Gottes) und die Igreja do Evangelho Quadrangular (Kirche des Vierfältigen Evangeliums) sind inzwischen globale Wirtschafts-Unternehmen, die zunehmend die Politik des Landes, etwa mit ihren TV-Sendern oder Instagramkanälen, beeinflussen.

Der konvertierte Präsident

Ihnen kommt entgegen, dass der amtierende Präsident Jair Messias Bolsonaro nicht nur ultrakonservative Ansichten vertritt, sondern sich 2016 medienwirksam von Pastor Everaldo (Assembleia) im Jordan taufen liess. Einerseits ein geschicktes Manöver des eigentlich katholisch getauften Bolsonaro, um sich viele Stimmen zu sichern; andererseits eine gute Grundlage für die evangelikalen Kreise, ihre Position im Staat abzusichern.

Vereidigung von Ex-Präsident Jair Bolsonaro in Brasilia
Vereidigung von Ex-Präsident Jair Bolsonaro in Brasilia

2018 unterstützten dann alle grossen evangelikalen Kirchen Bolsonaros Präsidentschaftswahlkampf unter dem Motto «Brasilien über alles; Gott über allen». Heute gestalten evangelikale Christinnen und Christen in Exekutivämtern die Politik mit. Die Zweckgemeinschaft zwischen Bolsonaro und den Evangelikalen hat bislang für beide Seiten rentiert. Die evangelikalen Wählerinnen und Wähler richten sich häufig nach den politischen Vorgaben ihrer Pastorinnen und Pastoren und mit fast 30 Prozent Wahlberechtigten stellen sie eine lohnende Unterstützergemeinschaft dar. Umgekehrt stützt Bolsonaros Politik die moralische Weltanschauung vieler evangelikaler Kreise.

Religiöse Intoleranz als Folge der Macht?

Alles, was nicht wortgemäss in der Bibel steht, wird von den evangelikalen Kirchen in Brasilien abgelehnt. Themen wie Gleichberechtigung, Klimabewusstsein oder LGBTQAI+ werden entsprechend als Bedrohung der Familie, des christlichen Glaubens und des Landes verdammt. Von afrobrasilianischen oder indigenen Religionsgemeinschaften ganz zu schweigen.

Seit den 2010er Jahren gelangen immer mehr Berichte über Tempelschändungen und Erniedrigungen von Priesterinnen und Gläubigen an die Öffentlichkeit. In afrobrasilianischen Ritualen werde der Teufel angebetet, man müsse diesem unchristlichen Treiben ein Ende setzen, gifteln evangelikale Führer. Und militante Gläubige, darunter auch Gangmitglieder, handeln. Die Zahl religiös motivierter Attentate und Übergriffe hat allein im Bundesstaat São Paulo seit 2019 um 547 Prozent zugenommen. Die grösste Zahl der Übergriffe betraf dabei afrobrasilianische Religionsangehörige.

Die religiöse Intoleranz in Brasilien hat zugenommen; besonders in den Favelas, wo bislang viele afrobrasilianische Kulte ihre Heimstätten hatten. Was passiert am 2. Oktober, wenn die Wählerinnen und Wähler Bolsonaro eine weitere Amtszeit ermöglichen? Will Gott dann noch Brasilianer sein?

Cristo Redentor (Christus, der Erlöser) wacht vom Corcovado über Rio de Janeiro | © Wikimedia commons/Rafael Rabello de Barros, CC BY-SA 3.0
10. September 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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Lesetipp

Eine sehr lesenswerte Studie zum religiösen Wandel in Lateinamerika und der Verbindung zwischen den Evangelikalen und der Politik in Brasilien aus dem Jahr 2019 findet sich unter: https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019S26/