Silvana Lattmann ist die älteste Bewohnerin der Brunngasse 8 in Zürich - Filmstill
Religion anders

Wie ein Haus an der Brunngasse in Zürich vom Verstreichen der Lebenszeit erzählt

Der Dokumentarfilm «Brunngasse 8» startet in der Zürcher Altstadt mit alten jüdischen Wandmalereien. Daraus entsteht eine Erzählung über die Reflexion des Lebens und das Zusammenleben.

Ueli Abt

Das ist die Magie von alten Häusern: Im Verlauf von Jahrzehnten und vielleicht auch Jahrhunderten haben viele Menschen darin gelebt – der Raum bleibt derselbe, doch die Biografien dieser Menschen trennt die Zeit.

Mäuse nagen an der Lebenszeit

Das Leben, die Zeit, die Lebenszeit. Auch darum geht es nebst Fresken im Filmerstling von Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller. Das macht sie mit einer märchenhaften Erzählung am Anfang klar: Zwei Mäuse nagen quasi wie der Zahn der Zeit kontinuierlich an einer Wurzel, an der das Leben eines Menschen hängt.

Regisseurin Hildegard Keller
Regisseurin Hildegard Keller

Doch zunächst verweist der Titel des Dok-Films «Brunngasse 8» schlicht auf das historische Haus. In diesem fand die Stadtarchäologie vor einigen Jahren jüdische Wandmalereien, die Rückschlüsse aufs Zusammenleben von Juden und Christen im spätmittelalterlichen Zürich erlauben.

Die Brunngasse 8 blieb bewohnt bis in die Gegenwart. Regisseurin Keller lässt eine betagte Bewohnerin des Hauses aus ihrem Leben erzählen. Silvana Lattmann stammt aus Italien, ist Biologin und Lyrikern. «Alles was ich schreibe, ist gegen den Krieg», sagt sie im Film.

Von Anfang an von Malereien fasziniert

Lattmann war von Anfang an von den mittelalterlichen Wandmalereien fasziniert und begeistert. So habe sie auch einen namhaften Beitrag beigesteuert, um Malereien im Haus vor dem erneuten Zudecken zu bewahren. Diese waren in ihrer Wohnung im ersten Stock zum Vorschein gekommen, als sie bereits dort eingezogen war.

Eine Frau Minne, die mit ihren beiden Söhnen im 13. Jahrhundert im Haus lebte, dürfte die Fresken in Auftrag gegeben haben. Gerade weil die Motive eher wenig spezifisch waren und typisch für die – vor allem christliche – Elite der damaligen Zeit, deutet das darauf hin, dass Frau Minne nicht nur wohlhabend, sondern kulturell gut integriert war.

Die Motive an den Wänden entsprachen dem Stil der damaligen Zeit - Filmstill
Die Motive an den Wänden entsprachen dem Stil der damaligen Zeit - Filmstill

Das dürfte denn auch bei einigen wohlhabenden Familien in Zürich der Fall gewesen sein. Und Christen und Juden lebten im Quartier in friedlicher oder mindestens toleranter Koexistenz.

Doch das blieb nicht immer so. Durch Pogrome brachten Christen die Juden um oder vertrieben sie. Historiker erklären, dass die Judenverfolgung eine Methode der Christen war, drückende Schulden bei den Juden loszuwerden.

In Cagliari auf Rückkehr des U-Boots gewartet

«Gewalt hat auch im Leben von Silvana Lattmann Narben hinterlassen», heisst es im Off im Film. Im ersten Weltkrieg verlor sie den Vater, den sie nie kennenlernte. Als junge Frau verliebte sie sich in einen Marinesoldaten, wie sie im Film selbst erzählt. Der leistete Dienst auf einem U-Boot. Sie zog nach Cagliari, von wo aus die U-Boote ihre Missionen starteten. Damals habe sie Geduld gelernt. Denn wo sie waren und wann sie zurückkamen, habe man nie gewusst. Bis das U-Boot mit ihrem Geliebten nach einem Einsatz nicht mehr zurückkehrte.

Biologie habe sie studiert, weil die Lehrerin in der Mittelschule so begeistert davon gewesen sei. Das habe ihr den Kopf verdreht, bilanziert sie Jahrzehnte später: «Das war ohne Zweifel ein Fehler.» Und sie sinniert weiter: Man muss lieben lernen, selbst wenn der Tod nicht mehr fern ist. Denn dies bringe den Frieden.

Zeit ist das Kostbarste

«Brunngasse 8» ist eine Doku über Fresken und eine faszinierende Spurenlese, aber auch eine Reflexion übers Leben und das Zusammenleben. Denn die Zeit vergeht. Die Zeit ist das Kostbarste, was die Menschen haben, heisst es gegen Ende des Films.

Wappenfries in der Wohnung im ersten Stock mit Elefantenmotiv - Filmstill
Wappenfries in der Wohnung im ersten Stock mit Elefantenmotiv - Filmstill

Über eine Elefantendarstellung auf einem gemalten Wappen auf der Hauswand webt Keller eine Erzählung aus Indien in den Stoff ein. Und eine weitere Erzählung aus Indien vergleicht die Sicht verschiedener Religionen mit drei Weisen, die in einem dunklen Raum darüber streiten, ob es hier eine Palme, einen Fächer oder eine Säule gebe. Als das Licht angeht, sehen sie einen Elefanten und erkennen, dass sie nur die einzelnen Körperteile, nicht aber das ganze Tier wahrgenommen haben.

Gleichnishaft damit gemeint sind die verschiedenen Religionen, die immer nur Aspekte des Göttlichen, aber nicht das Gesamte erkennen würden. Dies erkenne erst, wer erleuchtet sei, egal, welcher Religion er oder sie angehört.

«Brunngasse 8» läuft derzeit im Kino Houdini in Zürich sowie im Cinewil in Wil SG.


Silvana Lattmann ist die älteste Bewohnerin der Brunngasse 8 in Zürich – Filmstill | © zVg / Bloomlight Productions
22. Januar 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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