Der ukrainisch-katholische Priester Ivan Machuzhak.
Konstruktiv

Wer klopfet an? Ukrainischer Priester über Weihnachten für Flüchtlinge im Exil

Am 24. Dezember herrschen zehn Monate Krieg in der Ukraine. Die Kirchen versuchen, den Geflüchteten ein tröstliches Weihnachtsfest zu gestalten. Doch die Frage nach dem Warum bleibt. Der ukrainische Priester Ivan Machuzhak spricht von einem «Paradoxon zwischen Menschlichkeit und Gräueltaten». Die Menschheit sei zur Quantenphysik fähig – aber auch zu Genoziden.

Sarah Stutte

Sie organisieren Hilfstransporte von der Schweiz aus in die Ukraine, unterstützen aber auch hierzulande ukrainische Flüchtlinge. Wie genau?

Ivan Machuzhak*: Ich helfe dort, wo es nötig ist. Als Spitalseelsorger im Kantonsspital Winterthur, wo ich die Menschen begleite. Als Übersetzer, wenn ein solcher gebraucht wird.

Zudem arbeite ich auch mit «Incontro» zusammen, dem Verein von Schwester Ariane, und helfe regelmässig bei der Essensausgabe. Dort treffe ich viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die gerade erst angekommen sind, und so ergeben sich viele Gespräche.

«Wir beten für die Opfer des Krieges und ihre Angehörigen.»

Seit dem 24. Februar gibt’s viele schlechte Nachrichten aus der Ukraine. Gab es für Sie in letzter Zeit ein positives Highlight?

Machuzhak: Ich habe mit der Unterstützung von Katholisch Stadt Zürich für einige Ukrainerinnen und Ukrainer eine Wallfahrt nach Lourdes organisiert. Sie dorthin zu begleiten und zu sehen, wie sie ihrer inneren Welt in Gebeten Ausdruck gaben, hat mich sehr berührt. Jeden Dienstagabend feiern wir in der Krypta der Liebfrauen-Kirche in Zürich eine Friedensandacht und beten für die Opfer des Krieges und ihre Angehörigen.

Ivan Machuzhak gehört der mit Rom unierten ukrainischen griechisch-katholischen Kirche an.
Ivan Machuzhak gehört der mit Rom unierten ukrainischen griechisch-katholischen Kirche an.

Wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind derzeit noch in der Schweiz und wie geht es ihnen kurz vor Weihnachten?

Machuzhak: Insgesamt halten sich noch ungefähr 70’000 Flüchtlinge in der Schweiz auf. Das diesjährige Weihnachtsfest in der Fremde ist für sie eine grosse Herausforderung. Noch vor einem Jahr führten sie in der Ukraine ein normales Leben. Viele Flüchtlinge – besonders diejenigen aus Mariupol oder anderen besetzten Gebieten – haben kein Zuhause mehr.

«Nichts vorfinden ausser Erinnerungen.»

Sie sind verzweifelt und ihre Hoffnung schwindet, dass sie dort noch irgendetwas vorfinden ausser Erinnerungen. Dazu kommt die Sorge um ihre Verwandten daheim. Die Unwissenheit, wie lange der Krieg noch dauert. Sich ganz auf die Schweiz einzulassen, ist für sie ebenfalls schwierig. Wäre das nicht ein Verrat an der Heimat und an den Zurückgelassenen?

Bringt die Verlängerung des Schutzstatus S für die Flüchtlinge keine Erleichterung?

Machuzhak: Einerseits gewährt dieser Status Schutz vor einer akuten Bedrohung. Andererseits ist damit eine befristete Arbeit nicht so einfach zu finden. Er vermittelt nicht unbedingt ein Gefühl der Sicherheit und des Angekommenseins.

Ukrainische Kinder beim Spielen in Teufen AR.
Ukrainische Kinder beim Spielen in Teufen AR.

Vor allem Frauen mit Kindern sind geflüchtet. Wie geht’s den Kindern?

Machuzhak: Einige Kinder sind noch nicht im Schulstoff drin oder sie wurden aufgrund der Sprachbarrieren runtergestuft. Das fördert die Motivation nicht. Freunde zu vermissen und einfach keine kindliche Unbekümmertheit mehr zu empfinden, verändert die Welt von Kindern. Verständlich ist auch ihr Heimweh, das gerade vor Weihnachten besonders spürbar wird.

«Manche feiern sogar zweimal Weihnachten.»

Nach welchem Kalender richten sich die Geflüchteten in der Schweiz? Wird Weihnachten am 25. Dezember oder am 7. Januar gefeiert?

Machuzhak: Manche feiern sogar zweimal Weihnachten (lacht). Einige werden am 24. und 25. Dezember die Gottesdienste besuchen. Die grösste Mehrheit der Flüchtlinge hat aber einen orthodoxen Hintergrund und feiert nach dem julianischen Kalender, also 13 Tage später. Der Heiligabend ist somit am 6. Januar.

Flüchtlinge aus der Ukraine kommen im Bundesasylzentrum in Chiasso an. Aufnahme vom 17. März 2022.
Flüchtlinge aus der Ukraine kommen im Bundesasylzentrum in Chiasso an. Aufnahme vom 17. März 2022.

Das ist nicht nur der Heilige Abend der Orthodoxen, sondern auch der mit Rom unierten griechisch-katholischen Kirche, der Sie angehören. Wie machen Sie die Botschaft von Weihnachten für Geflüchtete erfahrbar?

Machuzhak: Wir organisieren am 6. Januar in Zürich eine ukrainische Weihnachtsfeier. Am 7. Januar wird in der Kirche Veltheim in Winterthur zudem eine ökumenische Weihnachtsfeier stattfinden. Tags darauf werde ich in Münsterlingen TG mit einer Gruppe von behinderten Flüchtlingen eine Weihnachtsliturgie feiern.

«Freiheit ist zerbrechlich.»

Inwiefern hat sich die Solidarität der Schweizerinnen und Schweizer verändert?

Machuzhak: Am Anfang haben viele aus einem Bauchgefühl heraus entschieden zu helfen. Jetzt ist die Unterstützung reflektierter. Die Menschen haben verstanden, dass der Westen zusammenhalten muss und gemerkt, dass Freiheit etwas ist, worauf man stolz sein darf. Aber auch, dass diese Freiheit sehr zerbrechlich ist. Deshalb läuft die Hilfe weiter, allerdings auf leiseren Sohlen. Nach wie vor brauchen die Ukrainerinnen und Ukrainer Unterstützung. Das fordert viel, gibt aber auch sehr viel zurück.

Eine Krippenszene zeigt das Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf dem Petersplatz im Vatikan.
Eine Krippenszene zeigt das Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf dem Petersplatz im Vatikan.

Wo war Gott, als die Russen in Butscha ein Massaker angerichtet haben?

Machuzhak: Ich versuche, das Paradoxon zwischen Menschlichkeit und Gräueltaten zu verstehen. Dass wir einerseits zu Quantenphysik fähig sind, andererseits von Gier und Macht geleitet werden, hinterlässt eine Hilflosigkeit.

«Die Friedensbotschaft bewegt zum Nachdenken.»

Aus der Erfahrung der gegenseitigen Unterstützung wächst aber zugleich die Hoffnung, dass die Friedensbotschaft von Weihnachten alle Menschen zum Nachdenken und Handeln bewegt. Immerhin haben sie mit ihrer Liebe zur Freiheit diese Welt verändert und werden sie weiterhin verändern.

Mit welchen Hoffnungen und Wünschen ist für Sie das diesjährige Weihnachtsfest verbunden?

Machuzhak: Ich glaube daran, dass wir alle Weihnachten in diesem Jahr auf eine andere, tiefere Art und Weise erleben können. Indem wir unsere Wertvorstellungen neu beurteilen, etwa was uns unsere Freiheit bedeutet, die Familie und die Menschenwürde. Indem wir uns fragen, wo wir als Individuum und als kirchliche Gemeinschaft stehen.

Ukrainische Weihnachten

Weihnachten ist als Fest der Familie nicht nur ein Fest für die lebenden Familienmitglieder, sondern die Ukrainerinnen und Ukrainer gedenken so auch ihrer verstorbenen Verwandten. Traditionell steht deshalb immer ein leerer Teller mit Besteck im Fenster. So sollen sich die verstorbenen Ahnen am Essen bedienen können. Unter der Tischdecke wird meist Heu ausgelegt, was an die Geburt Christi erinnern soll. Manchmal werden Geldscheine darunter gesteckt, damit man das kommende Jahr im Wohlstand verbringt. An den Ecken des Tisches wird Knoblauch platziert, um böse Geister vom Heiligabend fernzuhalten.

Eine weitere Tradition ist der sogenannte «Diduch». Ein Bund aus Ähren, der den Zusammenhalt der Familie und der Generationen symbolisiert. Einige Familien legen ihn unter Ikonen, andere dagegen richten ihn auf dem Tisch an. Einer der wichtigsten Weihnachtsbräuche ist «Kolyaduvaty», das gemeinsame Singen von Weihnachtsliedern. Die weihnachtlichen Lieder werden nicht nur mit den Angehörigen gesungen, sondern überall: Gruppen treffen sich auf Strassen und ziehen gemeinsam von Haus zu Haus, um Christi Geburt zu verkünden und dem Fest einen Ausdruck zu geben.

Das Essen an Heiligabend umfasst zwölf Gänge in Erinnerung an die zwölf Apostel. Alle Gerichte sind Fastenspeisen, denn Heiligabend ist der letzte Abend der Fastenperiode vor Weihnachten. Häufig steht deshalb Fisch auf dem Tisch. Wichtige andere Gerichte sind vor allem vegetarischer Borschtsch sowie Pfannkuchen, Wareniki – also traditionelle ukrainische Teigtaschen mit Kartoffelfüllung – oder Speisen mit roter Beete und der süsse Brei Kutja. (sas)

* Ivan Machuzhak (52) ist Priester der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche. Diese ist mit Rom uniert, feiert ihre Liturgie allerdings im byzantinischen Ritus. Machuzhak arbeitet als Spitalseelsorger im Kantonsspital Winterthur und engagiert sich in einem Teilzeitpensum der katholischen Kirche in Zürich für ukrainische Flüchtlinge. Ivan Machuzhak hat selbst Geschwister in der Ukraine, die im Westen des Landes leben.


Der ukrainisch-katholische Priester Ivan Machuzhak. | © zVg
14. Dezember 2022 | 05:00
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