Mit Scham behaftet: Adam und Eva im Rijksmuseum Amsterdam.
Theologie konkret

Warum hat die katholische Kirche immer noch ein Problem mit Sex, James Martin?

In LGBTQ-Fragen schätzt Papst Franziskus die Meinung von James Martin. Zwar ist für Franziskus Sex ausserhalb der Ehe eine Sünde. Dennoch findet James Martin, dass der Kurs des Papstes richtig ist: «Franziskus war der erste Papst, der das Wort schwul’ in der Öffentlichkeit verwendet hat.» Was sagt der US-Jesuit zur Europa-Synode in Prag?

Raphael Rauch

Wie kommt es, dass Sie einen so guten Draht zu Papst Franziskus haben? Er scheint Ihnen immer sehr schnell zu antworten.

James Martin*: Ich empfinde es als grossen Segen, dass der Heilige Vater so freundlich zu mir ist. Als er auf meine Nachricht über seine Äusserungen zur Homosexualität antwortete, hatte ich den Eindruck, dass er die Fehlinterpretationen über sein Interview mit der Associated Press klären wollte.

Jesuit James Martin 2019 in Rom. Im Hintergrund: der Petersdom.
Jesuit James Martin 2019 in Rom. Im Hintergrund: der Petersdom.

Warum hält Papst Franziskus ausserehelichen Sex für eine Sünde?

Martin: Das ist einfach die katholische Lehre. In der katholischen Lehre ist Sex ein Ausdruck der totalen Hingabe, die in der Ehe ihre Erfüllung findet.

"Love is Love"
"Love is Love"

Macht Papst Franziskus einen Zickzackkurs, wenn es um LGBTQ geht?

Martin: Ganz und gar nicht. Papst Franziskus hat von Beginn seines Pontifikats an deutlich gemacht, dass er LGBTQ-Menschen seelsorgerisch die Hand reichen möchte. Denken Sie nur daran, wie viel er in den letzten zehn Jahren getan hat: Franziskus war der erste Papst, der das Wort «schwul» in der Öffentlichkeit verwendet hat.

«Wer bin ich, um zu urteilen?»

Sein vielleicht berühmtestes Zitat bezog sich auf einen hypothetischen, schwulen Priester, als er sagte: «Wer bin ich, um zu urteilen?» Er hat Eltern aufgefordert, sich nicht von ihren LGBTQ-Kindern zu distanzieren, sondern sie willkommen zu heissen. Er hat einen offen schwulen Mann in eine päpstliche Kommission berufen. Er hat unterstützende Briefe an diejenigen in der Kirche geschrieben, die sich um LGBTQ-Menschen kümmern. Er hat viele Kardinäle und Bischöfe ernannt, die LGBTQ-Menschen gegenüber aufgeschlossen sind.  In meinen Augen hat er mehr als jeder andere Papst getan, um einen pastoralen Ansatz für LGBTQ-Menschen zu eröffnen. Ich kann also keinen Zickzackkurs erkennen. 

Kardinal Christoph Schönborn
Kardinal Christoph Schönborn

Kardinal Schönborn hat die Familiensynode mit der Quadratur des Kreises gerettet: Er hat das Lehramt bekräftigt – aber gleichzeitig pastorale Lösungen erreicht. Ist dieser Ansatz politisch klug, aber unehrlich?

Martin: Er ist überhaupt nicht unehrlich. Es ist vielmehr ein Schritt nach vorne, der ernst nimmt, wo die Kirche weltweit heute steht. Das Wichtigste, was die Synode in diesem Bereich tun könnte, wäre meiner Meinung nach, auf die Erfahrungen von LGBTQ-Menschen aus der ganzen Welt zu hören. Der Heilige Geist ist in ihnen aktiv.  Warum sollten wir nicht auf sie hören?

«Es geht um das Volk Gottes.»

Ausserdem ist die Synode keine Versammlung, die sich nur mit den Meinungen von Kirchenführern wie den Bischöfen beschäftigt, so wichtig diese auch sind. Sie soll auch auf die Erfahrungen des «Volkes Gottes» achten, also auf uns alle.

Meinrad Furrer beim "Segen für alle" – hier ein lesbisches Paar.
Meinrad Furrer beim "Segen für alle" – hier ein lesbisches Paar.

Muss das Lehramt geändert werden – oder muss es einfach mehr Ausnahmen zulassen?

Martin: Was mich betrifft, so stelle ich die kirchliche Lehre nicht in Frage. Wir müssen jedoch darauf achten, wie diese kirchliche Lehre von denjenigen gehört wird, für die sie bestimmt war. Oder, um eine katholische Terminologie zu verwenden, wie diese empfangen wird.

«Die Frage für die Synode lautet: Können wir auf die Stimmen katholischer Mütter hören?»

Was meinen Sie damit?

Martin: Vor einigen Jahren sagte die Mutter eines schwulen Sohnes zu mir bezüglich der Begriffe «von Natur aus ungeordnet» und «objektiv ungeordnet», die der Katechismus in Bezug auf LGBTQ-Menschen verwendet: «Weiss der Vatikan, was solche Worte mit einem jungen LGBTQ-Menschen anrichten können?  Sie könnten ihn zerstören.» Und erst vor ein paar Monaten sagte eine andere Mutter eines schwulen Sohnes nach einem Vortrag von mir in Rom zu mir: «Pater James, Sie sprechen davon, dass die Kirche LGBTQ-Menschen willkommen heissen muss.  Nun, ich möchte nicht von einer Kirche willkommen geheissen werden, die mit diesen Worten über meinen Sohn spricht.» Die Frage für die Synode lautet: Können wir auf die Stimmen dieser beiden katholischen Mütter hören? Und können wir auch auf ihre Kinder hören?

Die verbotene Liebe eines Priesters: Rachel Ward und Richard Chamberlain in "Dornenvögel".
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Warum hat die katholische Kirche immer noch ein Problem mit Sex?

Martin: Ich bin mir nicht sicher, ob ich es so ausdrücken würde.  Eine der grossen Einsichten der katholischen Lehre zum Thema Sexualität ist, dass man sie verehren soll. Wir sollten einander verehren, und dazu gehört auch, dass wir Sex als die Art und Weise verstehen, in der zwei Menschen in einer festen Beziehung ihre Liebe zum Ausdruck bringen. In der kirchlichen Lehre steckt viel Weisheit, vor allem in einer Kultur, in der Sex manchmal herabgewürdigt wird und Menschen als Objekte behandelt werden. Sex ist eine starke Kraft, und die Menschen sind unklug, wenn sie das nicht ernst nehmen. Und die katholische Lehre nimmt das ernst.

«Die Kirche sollte LGBTQ-Menschen zuhören.»

Was muss sich ändern?

Martin: Die Kirche kann immer noch etwas über die menschliche Sexualität lernen, und vor allem, wenn es um LGBTQ-Menschen geht, ist die Kirche aufgerufen, zuzuhören. Ein grosser Teil der kirchlichen Lehre zur Sexualität basiert auf dem Naturrecht. Das Naturrecht hat sich immer daran orientiert, wie die Dinge in der Natur sind. Mit dem menschlichen Verstand versuchen wir dann, Gottes Plan für uns zu verstehen. Aber während wir darüber nachdenken, was Gott in der Natur – auch in der menschlichen Natur – offenbaren könnte, müssen wir weiterhin zuhören und lernen.

In Prag eingetroffen: der konservative Kurienkardinal Marc Ouellet.
In Prag eingetroffen: der konservative Kurienkardinal Marc Ouellet.

Heute beginnt der synodale Prozess in Prag. Wie sollten sich die Teilnehmenden verhalten, vor allem die Bischöfe?

Martin: Das hängt vom Heiligen Geist ab! Ich werde den Europäerinnen und Europäern sicher nicht vorschreiben, was sie tun sollen. Der Schlüssel ist wiederum das Hören auf die Stimme des Geistes, der in den Menschen wirkt. Können die Bischöfe offen dafür sein, den Geist zu hören, der in den Erfahrungen derer lebendig ist, die man in den USA «the people in the pews» nennt, also die Menschen in den Kirchenbänken, das Kirchenvolk? Dann müssen sie weitermachen.

«Papst Franziskus lehrt auch mit Taten: Er trifft sich mit Transgender-Personen.»

Sind Sie enttäuscht, dass Papst Franziskus sich nicht klarer und deutlicher zu Reformen äussert?

Martin: Ganz und gar nicht. Und ich denke, dass wir oft übersehen, welche Reformen der Heilige Vater bereits durchgeführt hat. Zum Beispiel hat er erst kürzlich die Autorität der Kirche hinter die Entkriminalisierung der Homosexualität gestellt. Er ist der erste Papst, der das getan hat, und das ist ein gewaltiger Schritt nach vorn. Ist das nicht auch eine Art von Reform? Ehrlich gesagt denke ich, dass er sowohl durch seine Worte als auch durch seine Gesten sehr viel reformiert hat. Es gibt ja viele Arten von Lehre: Migranten und Flüchtlinge besuchen, Häftlingen die Füsse waschen, sich mit Transgender-Personen treffen.  Denken Sie daran, dass Jesus sowohl mit Worten als auch mit Taten gelehrt hat. Das tut auch der Papst.

Die italienische Transperson Alessia Nobile beim Papst. Die französische Ordensschwester Genevier (Mitte) hatte das Treffen vermittelt.
Die italienische Transperson Alessia Nobile beim Papst. Die französische Ordensschwester Genevier (Mitte) hatte das Treffen vermittelt.

Berichten zufolge arbeitet der Vatikan an einem Gender-Papier. Sind Sie daran beteiligt? 

Martin: Ich habe davon gehört, aber ich weiss nicht viel darüber.

Die Vereinten Nationen in Genf.
Die Vereinten Nationen in Genf.

Der Heilige Stuhl nutzt regelmässig diplomatische Foren der Vereinten Nationen, um gegen Gender-Ansätze Stimmung zu machen. Zum Teil arbeitet der Heilige Staat dafür mit Staaten wie der Türkei, Russland und Indonesien zusammen. Ist Ihnen das peinlich?

Martin: Ich weiss nicht genug über die Interventionen des Heiligen Stuhls in der UNO, um das kommentieren zu können.

* Der US-Amerikaner James Martin zählt zu den weltweit bekanntesten Jesuiten. Der LGBTQ-Aktivist tauscht sich regelmässig mit Papst Franziskus aus – persönlich und in Briefen. Immer wieder sprechen sie über «Freuden und Hoffnungen, Kummer und Sorgen» von LGBTQ-Katholikinnen und -Katholiken, teilte James Martin im Herbst mit. 

James Martin setzt sich seit Jahren für die Rechte und Seelsorge von LGBTQ ein. LGBTQ steht für Personen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, Transgender oder queer identifizieren.

Papst Franziskus ermuntert den Jesuiten immer wieder, mit seinem seelsorgerischen Engagement für sexuelle Minderheiten fortzufahren.

Dieses Interview wurde schriftlich geführt.


Mit Scham behaftet: Adam und Eva im Rijksmuseum Amsterdam. | © Raphael Rauch
5. Februar 2023 | 16:56
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