Wladimir Putin bekreuzigt sich in der Osternacht 2022.
Kommentar

Warum der Tyrannenmord nicht ideal, bei äusserster Not aber legitim sein kann

Wer mit Gandhi oder Jesus argumentiert, um völlige Wehrlosigkeit zu propagieren, blendet deren Kontexte aus, findet der Churer Ethiker Hanspeter Schmitt. Auf Putins Gewalt gebe es aktuell nur eine Antwort: Wehrhaftigkeit. Ein Gastkommentar.

Hanspeter Schmitt*

Die Realisierung von Idealen hat es in sich. Das gilt nicht nur für Kriegszeiten wie den jetzigen, in denen kontroverse Debatten über Frieden, Sicherheit, Versorgung und Lebensschutz geführt werden. 

Das Bestmögliche schrittweise anstreben

Denn einerseits sind solche Ideale unabdingbare Leitbegriffe humanen Miteinanders: Sie bezeichnen und beflügeln das Optimum sittlicher Praxis. Andererseits treffen sie auf reale Situationen und komplexe persönliche wie politische Lagen. Diese sind von begrenzten Möglichkeiten und Ressourcen, aber auch von Wert- und Handlungskonflikten geprägt. 

Hanspeter Schmitt.
Hanspeter Schmitt.

Eine nahtlose Umsetzung idealer Ziele ist deshalb keineswegs selbstverständlich. Es braucht Klugheit bestehend aus Realitätssinn, perspektivischem Denken und lernoffenem Engagement, um das in einer Situation Bestmögliche schrittweise anzustreben und zu erreichen.

Wenn es Ausnahmen von der Pflicht braucht

Zum Beispiel Wahrhaftigkeit: Als Ideal menschlichen Handelns steht und sorgt sie für gelingende Kooperation, wahrheits- und sachgemässe Orientierung und nicht zuletzt für eine Kultur authentischer Begegnung. Daher ist sie human verbindlich. Was aber, wenn das Mitteilen von Wahrheit nachweislich erheblich schadet, anstatt zu Gutem zu führen? 

Etwa weil sie für den Moment nicht verkraftbar wäre oder weil das Wissen eingesetzt und verbreitet würde, um jemanden bloss zu stellen oder zu verletzen? Man darf es sich hier wegen der besagten Bedeutung von Wahrhaftigkeit nicht einfach machen. Dennoch gilt diese Pflicht nicht absolut: Sie wird ausnahmsweise und auf Zeit zurückgestellt, um Schutz und Fürsorge walten zu lassen.

Willkür oder billige Lösungen sind fehl am Platz

Ähnlich das Ideal Treue: Auch sie ist ein wesentlicher Standard menschlichen Zusammenlebens, weil sie für die Verlässlichkeit und Zukunftsfähigkeit sozialer wie struktureller Beziehungen sorgt. Damit bringt sie Vertrauen, Handlungssicherheit und bekömmliche Lebensentfaltung hervor. Was aber, wenn zwischen diversen Bindungen, etwa zwischen Beruf und Familie, unerträgliche Spannungen entstehen?

Was, wenn meine Selbstachtung und meine Treue zu eigenen legitimen Bedürfnissen und Überzeugungen gewachsene oder vereinbarte Verbindungen zunehmend in Frage stellen? Auch hier sind Willkür oder billige Lösungen fehl am Platz! Vielmehr geht es um Verantwortung: Kritisch und inspirierend bringt sie die Treue mit den konkurrierenden Anliegen zusammen und entwickelt so real tragbare Lebensmodelle.

Putins Töten nicht einfach nur zuschauen

Nicht anders verhält es sich mit dem Friedensideal, das für eine Kultur gewaltfreien Umgangs steht. Auf der Basis einvernehmlich geregelter legitimer Interessen ermöglicht sie ein gedeihliches Miteinander von Menschen, Gruppen und Völkern. Der von Putin befohlene Angriffskrieg gegen die Ukraine verletzt dieses Ideal auf verbrecherische, völkerrechtswidrige Weise. Er nimmt die Zerstörung von Leib und Leben, Gemeinwohl und Kultur strategisch in Kauf. 

Das "Russian Warcrimes House" macht während des WEF in Davos auf Putins Kriegsverbrechen aufmerksam.
Das "Russian Warcrimes House" macht während des WEF in Davos auf Putins Kriegsverbrechen aufmerksam.

Da kein Ende dieser Aggression zu erwarten ist, sehen die Angegriffenen wie die Völkergemeinschaft ihre Pflicht darin, Mittel militärischer und wirtschaftlicher Gegengewalt zu ergreifen. Ideal scheint diese Intervention nicht, zumal sie Risiken birgt und wiederum Menschen schmerzlich getroffen werden. Real aber zeigt sich aktuell kein besserer Weg, als dem Töten und der obsessiven Gewalt durch grosse Wehrhaftigkeit konsequent Einhalt zu gebieten.

Abbau von Bedrohung, Kooperation und Mediation

Hat sich im Zuge solcher Realpolitik das Friedensideal erledigt? Keineswegs! Es ruft gerade dann die volle Tragweite friedensethischer Verantwortung ins Bewusstsein: Erstens sind, um politische wie persönliche Konflikte zu vermeiden, berechtigte Interessen aller wie etwa Versorgung, Entfaltung, Sicherheit und Identität uneingeschränkt wahrzunehmen, fair zu berücksichtigen und dauerhaft zu regeln. 

Ende und Aufbruch, Tod und Leben in einem Bild: Ein Foto im "Russian Warcrimes House" in Davos.
Ende und Aufbruch, Tod und Leben in einem Bild: Ein Foto im "Russian Warcrimes House" in Davos.

Das setzt zweitens voraus, dass in allen Stadien einer Beziehung, zumal in Krisen und bei Differenzen, Schlüsselkompetenzen wie Empathie, Transparenz, Abbau von Bedrohung, Kooperation und Mediation klärend und gewaltmindernd eingesetzt werden. 

Friedensentwicklung fördern

Drittens sind enggeführte Blickwinkel, Denk- und Planungsmuster auszuweiten: Welche bislang unbeteiligten Kräfte können in die Friedensentwicklung einbezogen werden? Welche Chancen ergeben sich langfristig, welche Folgen sind in welcher Weise tragbar? Welche Risiken müssen wohl oder übel eingegangen werden?

Viertens sind Verbündete, Vertraute und Funktionäre im Nahbereich eines mordenden, ausser Kontrolle geratenen Herrschers in einer besonderen Pflicht: Sie müssen ihren Zugang und Einfluss nutzen, um ihn zu stoppen, zu entmachten oder unschädlich zu machen. 

Dilemma Tyrannentötung

Gemessen am unteilbaren Lebensschutz ist eine Tyrannentötung wiederum nicht ideal. Als letztes umsichtig gewähltes Mittel im Fall äusserster Not wird sie von der ethischen Tradition dennoch für legitim erachtet.

Demonstration gegen Putin in Genf im Juni 2021.
Demonstration gegen Putin in Genf im Juni 2021.

Alles das ist, wie gesagt, keine Abkehr vom Pazifismus, wie in den Debatten über Gewalt und Frieden oft behauptet wird. Es korrigiert aber seine rein idealistische, der rauen Wirklichkeit enthobene Form. Wer mit Gandhi oder Jesus argumentiert, um prinzipiell völlige Wehrlosigkeit zu propagieren, blendet deren Kontexte aus sowie deren Widerständigkeit und Strategie: Realistisch riskierten sie kraftvolle Mittel, um Systemen überbordender Gewalt entgegenzutreten und sie zu demaskieren. Sich oder andere sinnlos zu opfern, war gewiss nicht ihr Ziel.    

* Hanspeter Schmitt ist Professor für Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur.


Wladimir Putin bekreuzigt sich in der Osternacht 2022. | © Keystone
2. Juni 2022 | 06:22
Lesezeit: ca. 3 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!