Fotoaufnahme von Edith Stein 1936 in Breslau
Schweiz

Vor 100 Jahren: Jüdin Edith Stein lässt sich an Neujahr taufen

Ihre Taufe am 1. Januar 1922 wählte die jüdische Philosophin Edith Stein mit Absicht. Denn das ist laut dem Evangelium das Hochfest der Beschneidung und Namensgebung Jesu. Als Karmelitin sah sie sich in der Nachfolge Jesu, blieb aber dem jüdischen Volk und ihrer Familie verbunden. Ein Gastkommentar.

Christian Rutishauser*

Die jüdische Philosophin Edith Stein, die unerbittlich nach der Wahrheit suchte, liest im Sommer 1921 die Autobiographie von Theresia von Avila. Dabei entdeckt sie eine Wahrheit, die sie zum christlichen Glauben führt. Am 1. Januar 1922 lässt sie sich in Bad Bergzabern (Bistum Speyer) taufen. Das Datum ist bewusst gewählt: Das Evangelium, das bis heute zu Neujahr in der Liturgie gelesen wird, berichtet von der Beschneidung und Namensgebung Jesu am 8. Tag nach seiner Geburt, so wie es das jüdische Gesetz vorschreibt. Daher feierte die Kirche bis zum Konzil an Neujahr das Hochfest von Beschneidung und Namen Jesu.

Edith Stein will an genau dem Tag durch die Taufe in den neuen Bund eintreten, an dem Jesus als Jude in den alten Bund eingetreten ist. Sie ist eine der ersten Jüdinnen, die zum Christentum übertritt, und dabei ihrem jüdischen Volk innig verbunden bleibt.

Taufe Jesu am Jordan – Gemälde in der St. Ursen-Kathedrale Solothurn
Taufe Jesu am Jordan – Gemälde in der St. Ursen-Kathedrale Solothurn

Testament angesichts der Verfolgung

1933 tritt sie ins Karmelkloster von Köln ein, flieht nach der Kristallnacht am 9. November 1938 aber in den Karmel von Echt nach Holland. Angesicht der Verfolgung schreibt sie da 1939 in ihr Testament: «Ich bitte den Herrn, dass er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu seiner Ehre und Verherrlichung, für alle Anliegen des Heiligen Herzens Jesu und Mariä und der Heiligen Kirche, insbesondere für die Erhaltung, Heiligung und Vollendung unseres heiligen Ordens, namentlich des Kölner und Echter Karmels, zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes und damit der Herr von den Seinen aufgenommen werde und sein Reich komme in Herrlichkeit, für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt, schliesslich für meine Angehörigen, lebende und tote, und alle, die mir Gott gegeben hat: dass keiner von ihnen verloren gehe.»

Gestorben als Jüdin – oder in der Kreuzesnachfolge Jesu?

Die Übersiedlung und Flucht in den Karmel nach Le Pâquier in die Schweiz wird 1941 vorbereitet. Doch als sich die holländischen Bischöfe gegen die Nazis äussern, werden die getauften Juden als Vergeltung deportiert. Edith Stein wird am 9. August 1942 in Auschwitz vergast.

Für wen ist Edith Stein gestorben? Umgebracht, weil sie Jüdin war; das steht fest. Dennoch sah sie ihren Weg nach Auschwitz als Kreuzesnachfolge Jesu. Zählt die Fremd- oder die Eigendeutung?

Baracke im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau
Baracke im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau

Streit um Karmelkloster bei Auschwitz

Als Papst Johannes Paul II. sie 1987 selig- und 1998 heiligspricht, ist zwischen Juden und der Kirche über sie und über Auschwitz ein Streit entbrannt: In Auschwitz wurde nach dem Ende des Kalten Kriegs ein Karmelkoster gebaut und zahlreiche Kreuze aufgestellt, weil die katholischen Polen endlich auch als Opfer der Nazis anerkannt sein wollten. Hunderttausende von ihnen haben in Auschwitz-Birkenau gelitten, 73’000 wurden umgebracht. Der Karmel sollte im Sinn von Edith Stein ein Ort der Sühne sein.

Beleidigung für Juden

Für Juden jedoch sind Kloster und Kreuz auf ihrem «grössten Friedhof», wo rund eine Million Juden ermordet wurden, eine Beleidigung. Edith Steins Tod werde christlich vereinnahmt; sie sei nicht wegen ihres christlichen Glaubens umgebracht worden, sondern weil sie Jüdin war. Zudem konnte das Kreuz als traditionelles Zeichen des christlichen Triumpfs über das Judentum nicht akzeptiert werden.

Dazu kommt, dass die deutschen Katholiken in jenen Jahren gerade dabei waren zu lernen, dass sie weniger auf der Opferseite, als vielmehr auf der Mittäterseite der Nazis standen. Die Nazis hatten also ein Erbe zurückgelassen, indem sich die Verwerfung zwischen den Katholiken Polens und Deutschlands mit der alten Leidensgeschichte von Juden unter Christen verzahnte.

Die Heilige Edith Stein hält einen gekreuzigten Jesus. Skulptur von Bert Gerresheim in Köln.
Die Heilige Edith Stein hält einen gekreuzigten Jesus. Skulptur von Bert Gerresheim in Köln.

«Mutterliebe» für ihr geliebtes Volk

Edith Stein selbst, obwohl von der christlichen Wahrheit überzeugt, wollte mit ihrem jüdischen Volk sterben. Ihre Mutter, die 1936 am Tag ihrer Gelübde-Erneuerung verstarb, konnte nie verstehen, warum sie konvertierte. Edith sah ihre Mutter nach deren Tod dennoch als Fürsprecherin für sich bei Gott, so wie sie sich im Gegenzug für ihr geliebtes Volk mit «Mutterliebe» sorgte.

«Mutterliebe» ist es, was sie mit «Sühne» für ihr Volk sagen wollte, erklärt Pfarrer Manfred Deselaers, der heute das «Zentrum für Dialog und Gebet» in Auschwitz leitet. Johannes Paul II. wiederum hat das jüdische Leid so gut begriffen, dass er wie kein anderer Papst die Versöhnung mit dem Judentum vorantrieb. So wurde das Karmelkloster in Auschwitz wieder aufgelöst.

Das «Papstkreuz» zeugt von Leiden und Tod

Es ist heute ersetzt durch das eben genannte Zentrum. Auch die vielen Kreuze sind entfernt. Allein das sogenannte «Papstkreuz» sollte bleiben. Es ist nicht das alte Zeichen des Triumpfs. Es hat vielmehr seinen ursprünglichen Sinn zurückerhalten und verkörpert Leiden und Tod des und der Gerechten, die Gott nicht im Tode lässt, sondern zum Leben erweckt.

*Christian Rutishauser ist promovierter Judaist und Delegat für Schulen und Hochschulen der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten. Er ist Mitglied der Kommission für das Judentum der Deutschen und der Schweizer Bischofskonferenz. Seit 2014 gehört er zu den ständigen Beratern des Papstes für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum. Der Schweizer Jesuit lebt heute in München.

Fotoaufnahme von Edith Stein 1936 in Breslau | © KNA
1. Januar 2022 | 05:00
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