Cover von «Die Himmelskugel» und «Die Kunst, unter Wasser zu leben», Olli Jalonen, 2021 und 2023.
Religion anders

Von höchsten Höhen und tiefsten Tiefen

Der kleine Angus von der abgelegenen Atlantikinsel St. Helena entdeckt in Olli Jalonens grossartigen Romanen «Die Himmelskugel» und «Die Kunst, unter Wasser zu leben» die Welt und die Wissenschaft. Und auch die Religion spielt eine zentrale Rolle.

Natalie Fritz

«Der Herr Pastor hat mich das Lesen gelehrt, und Herr Halley lehrt mich noch mehr, nämlich das Denken.» (S. 533) Mit diesem Satz fasst der Ich-Erzähler, der junge Angus, fast am Ende von «Die Himmelskugel» sein bisheriges Leben ganz gut in Worte.

Topografische Karte von St. Helena.
Topografische Karte von St. Helena.

Geboren 1672 auf der abgeschiedenen Insel St. Helena, britischem Überseegebiet im Südatlantik, lernt der wissbegierige Halbwaise Angus vom Gottesmann, der zugleich auch der Geliebte der Mutter ist, lesen und schreiben. Pastor Burch erklärt dem Jungen die Welt aus der Perspektive eines tiefgläubigen Gottesmannes, der dem wissenschaftlichen Fortschritt durchaus etwas abgewinnen kann, da er in ihm die Umsetzung von Gottes Willen erkennt.

Fiktiver Ich-Erzähler trifft realen Forscher

Gleichzeitig arbeitet der fiktive Angus aber auch als Assistent des Astronomen, Kartografen und Mathematikers Edmond Halley, der die Insel 1677 tatsächlich zu Forschungszwecken besucht hatte.

Edmund Halley um 1690, Thomas Murray, Royal Society, London.
Edmund Halley um 1690, Thomas Murray, Royal Society, London.

Im Buch «Die Himmelskugel» wohnt Halley mit seinem Gehilfen bei Angus Mutter auf dem Hof in der Totholzebene, nahe des Hauptortes Jamestown.

Der willige, fünfjährige Angus zählt für den Forscher aus einer improvisierten Warte in der Krone eines Baums tagsüber Vögel und notiert des Nachts die Sternenkonstellation mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems. Damit Angus immer denselben Himmelsausschnitt sieht, muss er nach dem Aufstieg seinen Kopf mit einem Lederband fixieren.

Obwohl er dafür keinen Lohn, nur die Anerkennung des bekannten Mannes aus England bekommt, geht Angus seiner Aufgabe gewissenhaft und mit viel Ehrfurcht nach – auch Jahre nachdem Halley die Insel wieder verlassen hat. Angus will die Welt, und was auf ihr passiert, verstehen.

Lebensgefährliche Reise in die Zivilisation

Als es um 1684 auf der Insel zu Aufständen kommt, entscheiden der Pastor und Angus Mutter, dass es das Beste wäre, wenn der Junge mit dem Schiff nach England führe und dort bei Halley vorstellig würde. Der Junge soll dem Forscher einen Brief des Pastors überbringen, der die Situation vor Ort schildert. St. Helena ist nämlich nicht mehr länger das Paradies, für das es der Herr Pastor stets hielt, sondern hat sich durch menschliches Handeln negativ verändert.

Plakette am Haus von Halley in Oxford (Arbeitsstätte ab 1703).
Plakette am Haus von Halley in Oxford (Arbeitsstätte ab 1703).

Nach einer zunächst beschwerlichen und dann, als Angus als blinder Passagier entdeckt wird, erniedrigenden Fahrt erreicht der Junge endlich England. Die Zivilisation bricht auf Angus ein, doch die vielen Menschen und Häuser verunsichern ihn nur kurz. Er fragt sich bis zu Halley durch, der in London ein bequemes Leben führt.

Halley ist beeindruckt vom Willen des Jungen und von seiner Intelligenz und nimmt ihn bei sich auf. Für Angus eröffnet sich nun eine neue Welt – nicht nur gesellschaftlich, sondern auch auf der Wissensebene.

Mehr als nur Sprache

Olli Jalonens «Die Himmelskugel» wurde bereits 2018 auf Finnisch veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung dieses bezaubernden Romans, der eine Coming of Age-Erzählung mit der Europäischen (Wissenschafts-)Geschichte verknüpft, wurde von Stefan Moster verantwortet und kam erst 2021 in den Handel.

Cover «Die Himmelskugel», Olli Jalonen, mare Verlag, 2021.
Cover «Die Himmelskugel», Olli Jalonen, mare Verlag, 2021.

Die Geschichte ist aus der Perspektive des jungen Angus geschrieben und Moster versteht es brillant, seine kindliche Naivität und seinen Wissensdurst in deutsche Sprache zu übersetzen. So schmunzelt man, wenn sich aus Angus’ argloser Erzählung nach und nach rekonstruieren lässt, weshalb seine Mutter und Schwester nach Halleys Abfahrt je ein Kind geboren haben. Angus beobachtet genau und gut, versteht aber die Zusammenhänge nicht immer – und nachzufragen, traut er sich nicht.

Zugleich fügen sich seine akkuraten Beschreibungen der Inselbevölkerung zu einem Bild zusammen, das einem immer wieder den Atem stocken lässt: Angus’ alleinstehende Mutter mit ihrem unehelichen Nachwuchs wird nicht nur mit Verachtung gestraft, sondern bedroht. Auf der Insel gibt es jedoch kein Entrinnen… So viel zum Paradies-Ideal.

Geschichte wird lebendig

Neue und justierte Karte nach Edmund Halley um 1700.
Neue und justierte Karte nach Edmund Halley um 1700.

Dem zweimaligen Finlandia-Preisträger Olli Jalonen gelingt es hervorragend, Geschichte lebendig werden zu lassen. Geschickt zeigt er auf, inwiefern die Bewegung der Aufklärung mit ihrem Ideal der Vernunft nach und nach die Gesellschaft veränderte. Zugleich spielt Jalonen das wissenschaftliche Weltbild nicht gegen das religiöse aus, sondern zeigt auf, wo sie sich gegenseitig befruchteten.

Nicht nur die aufklärerischen Visionen Halleys und anderer Forscher lassen das Licht der Erkenntnis am Wissens-Horizont des kleinen Jungen leuchten, auch der Unterricht des Pastors hat das Seine dazu beigetragen. «Ich weiss nicht, wie weit Herr Halley auf der Erdkugel gekommen ist, aber jedenfalls weiss er, bis wohin ihr Rand reicht, und will dorthin. Einem solchen Menschen sieht man an: Auf das, was er will, geht er zu. Und das will ich auch tun.» (S. 543)

Assistent ohne Aussichten

Im 2023 erschienenen Roman «Die Kunst, unter Wasser zu leben» erzählt Jalonen nun Angus’ Geschichte weiter. Dieser lebt nun als Bediensteter in Halleys Haus und waltet zudem als dessen persönlicher Assistent. Angus ist immer noch wissensbegierig, aber eine Schulbildung hat Halley ihm nicht ermöglicht. Das wäre dann doch zu teuer. Sonst aber profitiert Halley gerne vom Eifer und der Intelligenz seines jungen Adlatus. Und immer dann, wenn es um eine richtige Anstellung oder Zukunftsperspektiven geht, vertröstet der Forscher seinen Assistenten.

Tauchglocke nach Halley, 1870, Louis Figuier.
Tauchglocke nach Halley, 1870, Louis Figuier.

Zwar ist Angus älter geworden, aber Halley ist noch immer sein Vorbild, sein Vaterersatz, den er bedingungslos verehrt. Immer wieder fühlt er sich nicht korrekt behandelt, begehrt aber nicht auf, zu dankbar ist er dem Wissenschaftler, zu klein fühlt er sich aufgrund seiner Herkunft.

Jalonen schafft es auch im Nachfolgeband, immer den richtigen Ton zu treffen. Nie wirkt Angus’ Sehnen nach Anerkennung weinerlich, seine demütige Haltung spiegelt sich in der Ergebenheit wider, mit der er sich als Versuchskaninchen ausnutzen lässt. Obwohl er grosse Angst hat, lässt er sich mit Halley neuester Erfindung, einer Tauchglocke, in die Tiefe hinunterlassen und verliert dabei beinahe das Gehör und sein Leben. «Von unten strömt frische Luft ein, aber zu langsam, und ich versuche mich weiter nach unten zu beugen, damit ich schneller schnappen kann, und lasse mich dabei fast ins Wasser fallen, aber das kann ich nicht, weil ich eine solche Anweisung nicht erhalten habe.» (S. 164)

Was soll nur aus mir werden?

Als Angus einen Brief des Pastors erhält und erfährt, dass dieser zurück in der alten Heimat ist, sucht Angus seinen ehemaligen Mentor in dessen Einsiedlerklause in Kent auf. Endlich hat Angus die Möglichkeit mehr über seine Familie zu erfahren, die er auf St. Helena hatte zurücklassen müssen. Der Pastor erklärt seinem jungen Freund, weshalb er die Insel allein verlassen musste und dass auch er keinen Kontakt mehr zu Angus’ Mutter pflege. Wer weiss, ob die Schiffe noch in St. Helena halten?

Cover «Die Kunst, unter Wasser zu leben», Olli Jalonen, mare Verlag, 2023.
Cover «Die Kunst, unter Wasser zu leben», Olli Jalonen, mare Verlag, 2023.

Nach diesem Besuch wird das Heimweh nach St. Helena immer grösser. Angus sehnt sich nach Nähe und Zuneigung. Doch seine schüchternen Gefühle für das Dienstmädchen Henrietta werden jäh unterbunden und ein tragischer Unfall scheint all seine Zukunftshoffnungen zu zerstören…

«Die Kunst, unter Wasser zu leben» setzt Angus’ Geschichte mit unerwarteten Wendungen fort und zeichnet dabei kein geschöntes Bild von der Zeit der Aufklärung, sondern ein vielfältiges. Angus als Erzähler wirkt nun reifer, ist aber immer noch auf der Suche nach dem richtigen Weg – und zwar demjenigen, der ihn zu sich selbst führt.

«Die Himmelskugel» und «Die Kunst, unter Wasser zu atmen» entführen die Lesenden auf eine hochemotionale Entdeckungsreise durch eine Welt, die der unseren gar nicht so fremd und trotzdem eine ganz andere ist.


Cover von «Die Himmelskugel» und «Die Kunst, unter Wasser zu leben», Olli Jalonen, 2021 und 2023. | © nf/mare Verlag
15. Juli 2023 | 07:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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Jalonen, Olli, Die Himmelskugel, übersetzt von Stefan Moster, Hamburg: mare, 2021, ISBN: 978-3-86648-609-6.

Jalonen, Olli, Die Kunst, unter Wasser zu leben., übersetzt von Stefan Moster, Hamburg: mare, ISBN: 978-3-86648-679-9.