Diskutieren vorgeburtliche Untersuchungen: Frank Mathwig, Caroline Arni, Christian Bolliger
Schweiz

Von der vorgeburtlichen Untersuchung zum imaginierten Kind

Zürich, 15.4.16 (kath.ch) Neue vorgeburtliche Untersuchungen können früh und risikofrei über die Erbanlagen des Embryo Auskunft geben. In was für eine Entscheidungssituation bringt dieses Wissen die Frauen? Zu dieser Frage diskutierten der Ethiker Frank Mathwig, die Historikerin Caroline Arni und der Politologe Christian Bolliger am Dienstag, 12. April, auf Einladung der Paulus-Akademie in Zürich. Sie bezogen sich auf eine Studie des Zentrums für Technologiefolgen-Abschätzung (TA-Swiss) zu genetischen Untersuchungen während der Schwangerschaft, die heute publiziert wird.

Regula Pfeifer

Seit 2012 werden neue sogenannt nicht-invasive Pränataltests (NIPT) angewendet. Sie können bereits in den ersten Tagen der Schwangerschaft durchgeführt werden und funktionieren mittels Blutanalyse bei der Schwangeren. Sie sind risikoarm und können mit 99-prozentiger Treffsicherheit feststellen, ob ein Embryo beispielsweise die Behinderung Trisomie 21 aufweist. «Da stellen sich Fragen nach den moralischen und gesetzlichen Grenzen, nach dem Recht auf Wissen oder Nichtwissen für die betroffenen Frauen, nach dem Recht auf reproduktive Freiheit», sagte Susanne Brauer in der Einleitung zur Diskussion «Können? Dürfen? Wollen? Kontroversen um vorgeburtliche Untersuchungen am Embryo» in Zürich. Und es frage sich: In was für eine Entscheidungssituation bringt dieses neue Wissen die schwangeren Frauen? Brauer ist Studienleiterin Bioethik, Medizin und Life Sciences an der Paulus-Akademie Zürich.

Wissen sei in unserer Wissensgesellschaft positiv besetzt, besonders das Entscheidungswissen, sagte Frank Mathwig, Ethikbeauftragter des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK). Doch je grösser das Wissen, umso schwieriger die Entscheidung. Eingrenzung und Auswahl müssten verstärkt werden. Das könne zu Überforderung führen, so Mathwig. In diesem Dilemma stecken seiner Ansicht nach schwangere Frauen, die aufgrund der neuen NIPT-Tests sehr früh sehr viel über ihre Frucht erfahren. Deshalb sei wohl die Nachfrage nach ethischen Antworten in den letzten Jahren stark gestiegen, konstatiert der Ethiker. Mathwig war in der Begleitgruppe zur TA-Swiss-Studie «Wissen können, dürfen, wollen? Genetische Untersuchungen während der Schwangerschaft» aktiv, die am Freitag, 15. April, den Medien vorgestellt wird.

Die Frage sei auch, ob die ärztliche Beratung, die mit den vorgeburtlichen Untersuchungen einhergingen, die Frauen auch tatsächlich befähigten, einen Entscheid zu fällen, gab der Politikwissenschaftler Christian Bolliger zu bedenken. Bolliger hat als Autor an der TA-Swiss-Studie mitgewirkt. Er wies auch darauf hin, dass nicht jede Technik automatisch von allen genutzt werde. Bei allen Stufen der vorgeburtlichen Untersuchungen gebe es Frauen, die darauf verzichteten und die Möglichkeit eines behinderten oder kranken Kindes in Kauf nähmen.

Basis für Urteil über Abtreibung oder nicht

Der genetische Befund führe zu einem Urteil. Und da werde entschieden, ob eine Schwangerschaft fortgesetzt oder abgebrochen werde, erinnerte Mathwig die Zuhörenden. Das hatte auch Brauer in der Einleitung betont: Bei den Tests während der Schwangerschaft würden genetische Bedingungen für Behinderungen und Krankheiten festgestellt, für die es keinerlei Therapie oder Genesungsmöglichkeiten gebe.

«Es gibt keine unbeeinflussten Entscheidungen», hakte da die Basler Geschichtsprofessorin Caroline Arni ein. Hinter jeder Entscheidung steckten Einflussnahmen der Gesellschaft, etwa der eigenen Familie. Arni forscht seit Jahren zu Schwangerschaft aus historischer Perspektive.

In anonymen Internetforen könne man am besten sehen, was für Fragen schwangere Frauen beschäftigten, sagte Bolliger. Sie sorgten sich um das Wohl des Kindes und fragten sich, ob ihr Kind mit einer Behinderung in dieser Gesellschaft auch leben könne. Und sie fragten sich: Wie kann ich, wie kann mein Partner mit dieser Situation leben? Passt das in meinen oder unseren Lebensplan? Zudem sorgten sie sich um das Wohlergehen der Geschwister eines behinderten Kindes.

Schutz des Embryos aus der Verfassung gekippt

«Wenn wir überlegen, ob wir das Kind austragen wollen, imaginieren wir Kinder, obwohl es dieses Kind ja irgendwie noch nicht gibt», gab Mathwig zu bedenken. Ein Embryo sei ein schwer zu greifendes Wesen. Und eines, das seit letztem Sommer nicht mehr geschützt ist. Der Passus ist laut Mathwig mit der Annahme der PID-Vorlage aus der Verfassung gekippt worden. Er hatte sich erfolglos dafür eingesetzt, dass dies in den Abstimmungsunterlagen klar deklariert werde. Eine solche Information hätte zu einem anderen Abstimmungsergebnis geführt, zeigte sich der Ethiker im Gespräch mit kath.ch überzeugt.

Eine reine Kontrollfiktion

Bei der Abtreibungsfrage müssten sich Eltern nicht nur mit der Selektionslogik auseinandersetzen – im Sinne: Will ich das Kind für mich und unsere Gesellschaft? Die Gesellschaft fordere von ihnen auch Antizipation und das sei oft unmöglich, kritisierte die Historikerin und Soziologin Arni. Denn gerade das sei typisch für das Elternseins: Man könne als Eltern nicht voraussehen, wie alles herauskommt, was für ein Elternpaar man sein wird und was mit dem Kind geschehen wird. Alles andere wäre eine reine Kontrollfiktion. Auch die Gene geben laut Arni alles andere als klare Informationen. Es gebe noch andere Faktoren, die die Entwicklung eines Embryos beeinflussten. Arni verwies auf Umwelteinflüsse, die ins Erbgut eingehen können, auf Todeserfahrungen von Schwangeren mit nahestehenden Personen, die offenbar psychische Erkrankungen beim Kind begünstigen. «Alles ist viel komplizierter, als was wir mit den genetischen Tests in den Händen haben», so Arni.

Unser Umgang mit solchen Fragen müsse politisch entschieden werden, befand Arni. Ihr persönliches Statement: «Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die Vielfalt willkommen heisst.» Doch als Feministin müsse sie weiterdenken und die Care-Frage, also die Frage der Betreuung, einbeziehen. Denn was, wenn die Strukturen fehlen, um ein Leben mit einem behinderten Kind umzusetzen?

Aus dem Publikum kamen unterschiedliche Voten. Hier würden laufend Pobleme diskutiert, nie die Chancen und Möglichkeiten solch früher Tests am Embryo, kritisierte ein älterer Herr. «Hier wird über wertes und unwertes Leben entschieden», brachte ein anderer Mann ein. Er kritisierte die herrschende neoliberale Gesellschaft und äusserte die Befürchtung, dass die Krankenkassen die schwangeren Frauen unter Druck setzen würden, sich solchen Tests zu unterziehen. Eine junge Frau brachte den Begriff Eugenik ins Spiel. «Mit der Fortpflanzungstechnologie wollen wir dem Unperfektsein des Menschen entgegen wirken», sagte sie. Sie würde eher von individualisierter Eugenik sprechen, die den einzelnen den Entscheid überlässt. Das sei doch etwas anderes, als man von früherer Eugenik kenne, antwortete Historikerin Arni auf den Input.

Die Veranstaltung fand am Dienstag, 12. April, im Volkshaus Zürich statt. Realisiert wurde sie von der Paulus-Akademie Zürich in Kooperation mit dem Zentrum für Technologiefolge-Abschätzung (TA-Swiss) und dem Schweizerischen Katholischen Frauenbund (SKF). Die Moderation übernahm Regula Ott vom SKF.

Link zur neuen Publikation «Wissen können, dürfen, wollen? Genetische Untersuchungen während der Schwangerschaft»

Link zum Artikel «Lugano: Schweizer Bischöfe sagen Nein zur Präimplantationsdiagnostik»

Kurzfassung der Studie im PDF zum Download

Diskutieren vorgeburtliche Untersuchungen: Frank Mathwig, Caroline Arni, Christian Bolliger| © 2016 Regula Pfeifer
15. April 2016 | 10:29
Lesezeit: ca. 4 Min.
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