Flüchtlinge am Bahnhof Chiasso
Schweiz

«Viele Flüchtlinge haben keine Ahnung, was Asyl ist»

Bern, 22.8.16 (kath.ch) Nach einem undurchsichtigen Verfahren bestimmt das Schweizer Grenzwachtkorps in Chiasso, wer ins Asylverfahren überführt wird und wer nach Italien zurück muss. Der Vernehmungsraum sei eine «Black Box», sagt Miriam Behrens, Direktorin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) im Interview mit kath.ch. Während zwei Tagen beobachtete sie vergangene Woche das Geschehen in Chiasso und Como. Währenddessen lobte Bundesrat Ueli Maurer an einer SVP-Veranstaltung die gute Arbeit des Grenzwachtkorps.

Sylvia Stam

Was geschieht an der Schweizer Südgrenze, wenn ein Zug aus Italien eintrifft?

Miriam Behrens: Wir haben während zwei Tagen beobachtet, dass das Grenzwachtkorps (GWK) systematisch in jeden Zug steigt und alle Menschen mit dunkler Hautfarbe herausnimmt. Es finden also gezielte Kontrollen von nicht europäisch aussehenden Personen statt. Diese Leute werden in Begleitung von mehreren Mitarbeitern des GWK in bestimmte Räumlichkeiten geführt.

Was geschieht da drinnen?

Behrens: Niemand weiss es genau, das ist eine Black-Box. Aus diesem Raum heraus werden einige Personen ins Asylverfahren überführt, weil das GWK zum Schluss gekommen ist, dass sie in der Schweiz Asyl beantragen möchten. Andere werden – mehrheitlich – in Bussen nach Como zurückgebracht.

Warum durften diese nicht in die Schweiz einreisen?

Behrens: Die Menschen sagten später in Como, dass sie keine Ahnung hätten, warum nicht. Einige sagten, sie hätten gar keinen Asylantrag gestellt, weil sie nach Deutschland wollten.

Wissen die Flüchtlinge denn, wie sie in der Schweiz Asyl beantragen müssen?

Behrens: Sie sind nicht informiert über das Asylverfahren in der Schweiz. Sie haben zum Teil nicht einmal eine Ahnung, was Asyl ist, geschweige denn, wie das Verfahren an der Grenze abläuft. Das liegt auch daran, dass viele von ihnen gar keine Sprache beherrschen, in der sie mit dem GWK kommunizieren könnten. Ohne Übersetzer sind Missverständnisse vorprogrammiert.

Wie kommuniziert denn das GWK mit den Flüchtlingen?

Behrens: Unter den Flüchtlingen war immer jemand, der ein wenig Englisch oder Italienisch konnte. Das GWK verlässt sich auf die Kenntnisse der Flüchtlinge. Wie das in der Einzelbefragung ist, weiss ich nicht.

Aber die Flüchtlinge wissen ja, dass sie die Sprache nicht können. Sind sie darauf irgendwie vorbereitet?

Behrens: Einige Flüchtlinge haben ein Papier dabei, auf welchem steht: «Ich möchte Asyl in der Schweiz.» Offenbar wird das aber am Zoll nicht akzeptiert. Das GWK meint, es könne nicht gewährleisten, dass das wirklich der Wunsch der Person ist. Denn diese verstehe ja gar nicht, was auf dem Zettel steht.

Müsste denn Ihrer Meinung nach das GWK Informationen über das Asylverfahren vermitteln?

Behrens: Die Schweiz muss sicherstellen, dass diejenigen, die in der Schweiz Schutz suchen, diesen auch erhalten. Ohne Information ist das nicht möglich. Informieren muss nicht zwingend das GWK, das kann auch das Staatssekretariat für Migration (SEM). Ausserdem müsste es in Zusammenarbeit mit Italien geschehen: Man müsste bereits in Como Informationen über das Schweizer Asylverfahren vermitteln. Die Flüchtlinge sind extrem verunsichert, sie wissen zum Teil nicht einmal, dass sie in der Schweiz sind.

Sie kritisieren, dass das GWK Kinder zurückschickt.

Behrens: Kinder darf man nicht zurückschicken. Nach der Uno-Kinderrechtskonvention sind der Schutz und die rechtlichen Interessen des Kindes vorrangig zu beachten. Das heisst, die Schweiz müsste Kinder in Obhut nehmen und ihnen helfen, sie mit ihren Familien zusammenzuführen. Wir erwarten, dass die Schweiz diese Kinder für diese Abklärungen aufnimmt. Dafür sollte an der Grenze beispielsweise jemand von der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) des Kantons Tessin dabei sein.

Wäre dies nicht die Aufgabe Italiens?

Behrens: Es ist bekannt, dass Italien die Pflichten, die es international im Umgang mit Kindern hat, nicht vollumfänglich wahrnimmt. Die Schweiz müsste zumindest sicherstellen, dass Italien diese Pflicht erfüllt. Sie tut aber auch das nicht. Sie schickt Kinder zurück mit einem Papier, das nicht mehr ist als ein ausgefüllter Fragebogen. Das ist keine Sicherstellung, dass der Schutz dieses Kindes gewährleistet ist.

Was wird die SFH nun konkret tun?

Behrens: Wir gehen aktiv auf die zuständigen Behörden zu.  Das ist einerseits der Kanton Tessin, andererseits das Finanzdepartement von Ueli Maurer (EFD), dem das GWK unterstellt ist. Der Kanton Tessin hat hier auch eine Entscheidungsbefugnis. Die Absprache zwischen dem Grenzwachtkorps beziehungsweise dem Departement Maurer und dem Kanton Tessin ist relativ kompliziert. Auch wir wissen nicht genau, wer dem Grenzwachtkorps welchen Auftrag gegeben hat. Wir suchen das Gespräch, machen Vorschläge zur Verbesserung, bringen aber auch unsere Kritik ein.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH (gegründet 1936) ist der Dachverband der Hilfswerke Caritas Schweiz, Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS), Schweizerisches Arbeiterhilfswerk (SAH), Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF), Stiftung Heilsarmee Schweiz und der Schweizer Sektion von Amnesty International.

Ueli Maurer verteidigt Arbeit des Grenzwachtkorps

Flüchtlinge am Bahnhof Chiasso | © Keystone
22. August 2016 | 08:00
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