Urnäsch: Mit Zäuerli und Schellenklang ins neue Jahr

Urnäsch AR, 15.1.15 (kath.ch) Wenn hoher Männergesang und Schellenklang durch die Täler hallen, dann sind sie wieder unterwegs: die Silvesterchläuse. Am 13. Januar erlebten Einheimische und Gäste aus aller Welt erneut magische Momente. Vor allem im frisch verschneiten Urnäsch, in dem diese alte Tradition besonders schön zu erleben ist.

Vera Rüttimann

Um vier Uhr morgens ist es in Urnäsch noch dunkel. Draussen fällt der erste Schnee des neuen Jahres. In einigen Bauernhöfen und Wirtshäusern wie dem «Ochsen» brennt jedoch schon Licht. Drinnen herrscht hektische Betriebsamkeit. Die Silvesterchläuse bereiten sich auf ihren langen Marsch vor. Die «Schönen» schlüpfen in Frauenkleider mit bunten Kniebundhosen und schmücken ihr Haupt mit einer grossen und buntgeschmückten Kopfbedeckung. Die «Wüeschten» hingegen kleiden sich mit einem Gewand aus Rinden, Tannenzapfen und Moos ein. Zum Start hängen sich alle die schweren Kuhglocken und Schellen um. Mit ohrenbetäubendem Lärm brechen die Gruppen in die Dunkelheit auf, um das alte Jahr zu verabschieden.

In Urnäsch, idyllisch gelegen am Fusse des Säntis, ist wieder Silvesterchlausen. Jener Jahrhunderte alte und einzigarte Brauch, mit dem die Appenzell-Ausserrhödler zweimal, Ende Dezember und Mitte Januar, das neue Jahr begrüssen: Erst nach gregorianischem, dann nach julianischem Kalender. Hier gehen die Uhren buchstäblich anders. Ein

«Zäuerli» zur Begrüssung

Silvester in Urnäsch ist besonders. Fondue, Sekt und Böller? Das findet anderswo statt. Sind die Silvesterchläuse unterwegs, gibt es Momente, in der die Zeit stehen zu bleiben scheint. Dann nämlich, wenn sich die Gruppe mit ihren Hauben vor einen Bauernhof stellt und dem Senn mit einem «Zäuerli», einem Naturjodel, ein gutes neues Jahr wünscht. So wie dem Bauern Hannes K. und seinen drei Kindern. Zuerst schellen die Glocken, dann setzen hohe Männerstimmen ein, deren Gesang vom heftigen Wind weit über die frisch verschneiten Felder getragen wird. Wie ein dahingehauchtes Gedicht.

Der alte Mann lauscht andächtig den alten Liedern. Kein Wort fällt, sein Blick geht in die Ferne. Die ganze Hektik des alten Jahres scheint von ihm abzufallen. Selbst die Tiere in seinem Stall schweigen. Dreimal wiederholt sich der Gesang. Das Ritual wird mit einer Art «Veitstanz» abgeschlossen, bei dem die Schellen heftig geschüttelt werden. Durch einen Strohhalm erhalten die Chläuse von ihm zum Dank einen Schluck Glühwein.

Der «Schuppel», wie sich Gruppen nennen, zieht weiter zum nächsten Hof. Durch den Schneefall sind an diesem Morgen fast nur die «Wüeschte» und die «Schön-Wüeschten» unterwegs. Vom Erscheinungsbild her sind sie die Wildesten. Sie ähneln mit ihren Umhängen aus Tannenzweigen, Stroh und Hüten aus Ästen wandelnden Büschen. Die Kinder fürchten sich ein wenig vor ihren Masken. Touristen und Medienleute aus aller Welt hingegen, die dem Klang der Schellen folgen, freuen sich an ihnen.

Der wahre Silvester

Für die Urnäscher ist der 13. Januar, der «alte» Silvester, der einzig wahre. Den genauen Ursprung ihres Festes kennt jedoch niemand mehr so genau. Experten bringen die Ursprünge des Silvesterchlausens mit dem spätmittelalterlichen St. Nikolausfeiertag der Klosterschüler in Verbindung. In Quellen wird das Chlausen erstmals 1663 schriftlich erwähnt. Die Kirche wehrte sich heftig gegen das nächtliche Herumlaufen mit Schellen und gegen das Poltern rund um das Nikolausfest, das sich immer mehr in die Zeit nach Weihnachten zu verschieben begann.

Früher lebten die Urnäscher nach dem julianischen Kalender. Als der Papst jedoch den gregorianischen Kalender einführte und sich damit der Beginn des neuen Jahres verschob, erhob sich dagegen der protestantische Unmut. Seitdem wird hier der Silvester zweimal gefeiert. «Das Chlausen wurde von der Kirche lange Zeit nicht gerne gesehen. Bis in die 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts war eine gewisse Aversion zu spüren», sagt Antonia Brown, die als Museumsführerin in Urnäsch arbeitet. Der alte Silvester ist für sie «das letzte Überbleibsel eines eigenständigen und oftmals etwas sturen Volkes gegen die katholische Obrigkeit.»

Abbild des bäuerlichen Lebens

Bis in die Mittagsstunden sind die Chläuse auf den Feldern unterwegs, bevor sie sich in den Wirtshäusern stärken. Es ist eine äusserst kräftezehrende Tätigkeit, denn Masken und Glocken wiegen allein gut 25 Kilo. «Dies erklärt, weshalb nur Männer unterwegs sind», sagt Antonia Brown. Auf dem Kopfschmuck der «Schönen» ist in Miniatur meist das ganze bäuerliche Leben dargestellt, das nirgendwo sonst so urtümlich und liebevoll gepflegt wird wie im Appenzellerland. So zeigen die Motive auf den imposanten Hüten Alpauf- und Abzüge, Alpstobeten, Viehschauen und Sennentänze. Immer wieder sind auch religiöse Motive zu entdecken. So etwa der Alpsegen, der Viehsegen oder Darstellungen des Armen-Seelen-Kultes.

Wärme in kalter Zeit

Es hat aufgehört zu schneien. Nun sind auch die «Schönen» mit ihren Samtkostümen aus Bordüren und Brokat vermehrt zu sehen. Ihre Hüte tragen sie stolz wie Pfaue durch das Dorf, in das sie gegen Abend unter bewundernden Blicken einziehen. Später sitzen die Chläuse mit den Gästen im Restaurant «Ochsen». Alle sind hier nun nahe zusammengerückt. Es ist kalt draussen, kalt auch gerade in der Welt. Vergnügt sitzen die Leute vor ihren dampfenden Tellern mit Appenzeller Siedwurst und einem Glas «Träsch». Während drinnen «Zäuerlis» angestimmt werden und es selbst hier drinnen andächtig still wird, kommt wohl manch einer unter den Gästen ins Sinnieren darüber, weshalb Bräuche wie das Silvesterchlausen jedes Jahr an Beliebtheit zunehmen, auch bei Jugendlichen. So viele Chlausen-Schuppel wie heute, sagt ein Kenner, seien schon lange nicht mehr unterwegs gewesen. Antonia Brown, die an diesem Tag ausländische Gäste betreut hat, beobachtet: «Bräuche wie das Chlausen erzeugen Wärme und Zusammenhalt. Das brauchen die Menschen gerade in Zeiten wie diesen. Deshalb ist selbst die Kirche vor Ort mittlerweile der grösste Fan des Silvesterchlausens.» (vr)

Bilder zu diesem Text sind direkt bei der Autorin zu beziehen unter: info@veraruettimann.com

 

Ein «wüeschter» Silvesterchlaus in Urnäsch| © 2016 Vera Rüttimann
15. Januar 2016 | 15:25
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