«Unsere Haltung gegenüber Muslimen ist Ausdruck unserer Verunsicherung»

Freiburg, 12.9.17 (kath.ch) Nichtmuslimische Menschen in der Schweiz sollten sich über den eigenen Anteil an der Muslimfeindlichkeit klar werden und die Vielfalt unter Muslimen positiv schätzen. Das sagt Wolfgang Bürgstein, Generalsekretär der Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz.

Er war Referent und Hörer der Tagung «Muslimfeindlichkeit – Gesellschaft, Medien und Politik» an der Universität Freiburg (Schweiz). Die Tagung wurde von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus organisiert, deren Mitglied Bürgstein ist.

Regula Pfeifer

Was ist Ihre Erkenntnis aus der Tagung: Gibt es Muslimfeindlichkeit?

Wolfgang Bürgstein: Die Veranstaltung hat zum Ausdruck gebracht: Muslimfeindlichkeit gibt es, in der Politik und in den Medien. Sie wird für politische Interessen instrumentalisiert. Und sie verbreitet sich besonders stark in den Sozialen Medien. Das haben die Beispiele, die am Nachmittag vorgebracht wurden, klar belegt.

Am Vormittag und frühen Nachmittag wurde dargelegt, welche gesellschaftliche Bedeutung Muslime tatsächlich haben und in welchen unterschiedlichen Facetten Muslimfeindlichkeit zum Ausdruck kommt. Dabei wurde klar gesagt, dass das falsche, vereinfachende, pauschalisierende Narrative sind.

Was wäre ein Vorurteil betreffend Muslime?

Bürgstein: Viele nehmen an, dass die Moscheen immer voller werden und die Kirchen immer leerer. Das stimmt so nicht. Die Muslime stehen genauso in einem Säkularisierungsprozess drin wie andere Religionsgemeinschaften auch. Nur ein kleiner Prozentsatz unter den Muslimen geht regelmässig in die Moschee und betet regelmässig. Das ist ähnlich wie in anderen Religionsgemeinschaften auch. Auch dass die Kirchen sich immer mehr leeren, stimmt so nicht, zumindest nicht für die Migrationsgemeinden und gewisse freikirchliche Veranstaltungen.

Die Muslime stehen genauso in einem Säkularisierungsprozess drin wie andere Religionsgemeinschaften auch.

Haben Sie an der Tagung neue Erkenntnisse gewonnen?

Bürgstein: Durchaus. Wenn man bei Muslimfeindlichkeit gewisse Interessensgruppen in der Schweiz im Sinn hat, welche sich negativ über Muslime äussern, da will man vielleicht rasch zum Strafrecht greifen, um diese zurückzubinden. Gerade wenn Rassismus zum Ausdruck gebracht wird. Diese Perspektive allein greift aber zu kurz.

Was meinen sie damit?

Bürgstein: Unsere Haltung gegenüber Muslimen ist auch ein Ausdruck unserer eigenen Verunsicherung. Konkret für unseren zunehmenden religiösen Analphabetismus, der nicht mehr damit umgehen kann, dass eine mehr oder weniger sichtbare Zahl von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die hier leben, im öffentlichen Raum ein klares Bekenntnis zu ihrer Religion abgeben.

Da waren wir jahrzehntelang bemüht, die Religion zur Privatsache zu erklären. Und aus der Schweiz einen säkularen Staat als Ergebnis von Aufklärung, Reformation und Gegenreformation zu etablieren. Und plötzlich wird uns das Thema Religion auf ungeahnte Weise wieder aufgezwungen. Wir müssen also auch unseren eigenen Anteil an diesen falschen Narrativen klären.

Plötzlich wird uns das Thema Religion auf ungeahnte Weise wieder aufgezwungen.

Leben wir denn nicht in einem säkularen Staat?

Bürgstein: Nein, wir leben in einer postsäkularen Phase, wie viele Wissenschafter sagen. Die Annahme, dass der Mensch immer nur rational entscheidet und die Kraft des besseren Arguments gewinnt, ist nicht mehr länger haltbar. Davon ausgehend erhält das Thema Religion ein neues Gewicht. Da müssen wir als Gesellschaft in der Schweiz neu überlegen, wie das Verhältnis von Staat und Religion in Zukunft neu bestimmt werden kann und muss. Das ist meine erste Erkenntnis.

Welches ist Ihre zweite Erkenntnis?

Bürgstein: Die allermeisten Muslime haben einen Migrationshintergrund. In der Schweiz machen sie die Erfahrung: Das islamische Bekenntnis aus Nigeria, Eritrea oder Ägypten, aus dem Balkan oder aus Afghanistan unterscheidet sich ganz stark voneinander. Plötzlich erfahren diese Muslime in der Schweiz, dass der Universalcharakter des Islam ihr Selbstverständnis verändert. Diese muslimische Vielfältigkeit haben sie in ihrer Heimat nicht erlebt. Die Schweiz könnte genau das als Chance begreifen und die Muslime in ihrem Prozess der Neuorientierung unterstützen.

Plötzlich erfahren diese Muslime in der Schweiz, dass der Universalcharakter des Islam ihr Selbstverständnis verändert.

Die Vielfalt war immer ein starkes Argument in der Schweizer Geschichte. Und Demokratie ist aus dem Widerspruch, der Differenz entstanden und lebt von der Bereitschaft zum Kompromiss, wie Professor Matteo Gianni aus Genf sagte. Ich frage mich: Warum funktioniert das heute nicht mehr? Darüber müssten wir vertieft nachdenken.

Fanden Sie etwas empörend?

Bürgstein: Nicht empört, aber betroffen gemacht, hat mich, was über die islamophoben Netzwerke in den Sozialen Netzwerken berichtet wurde. Die in einem Land gegründeten Netzwerke weiten sich auf viele Kanäle in den Sozialen Medien aus, überschreiten nationale Grenzen und organisieren sich dann auch in der realen Wirklichkeit. Es kommt zu konkreten Treffen und Protestmärschen. Diese strategische Professionalität, mit der diese rechtsradikalen bis rassistischen Gruppierungen vorgehen, hat mich betroffen gemacht.

Die strategische Professionalität, mit der rechtsradikale Gruppierungen vorgehen, hat mich betroffen gemacht.

Welche Lehre ziehen Sie aus der Veranstaltung?

Bürgstein: Am Podium erzählten die muslimischen Vertreterinnen, wie zermürbend es ist, ständig gegen Vorurteile anzukämpfen. Das gelinge ihnen am besten in der persönlichen Begegnung. Das hat mich überzeugt: Wir müssen neue Räume finden, in denen Begegnungen möglich sind und so der gegenseitige Respekt wachsen kann. Die Minarett- und Burkagegner können nicht nur mit Zahlen und der Kraft des besseren Arguments überzeugt werden. Es braucht Begegnungen.

Das klingt gut, aber was ist mit Salafismus und Terrorismus?

Bürgstein: Auch darüber muss man reden können. Man sollte die Muslime nicht nur mit Samthandschuhen anfassen und Terrorismus, Salafismus und andere schwierige Themen ausklammern. Dabei begibt man sich auf eine Gratwanderung. Hier ist auch die Bereitschaft zum Zuhören und zum gegenseitigen Respekt entscheidend.

Zudem müssen wir die Muslime als Akteure in der Gesellschaft begreifen, die ihren Beitrag in der Gesellschaft leisten. Wir dürfen sie nicht nur in einer Opferrolle festschreiben. Muslime leisten viel Integrationsarbeit, etwa indem sie anderen bei der Suche nach Arbeit oder beim Gang zum RAV (Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum) helfen. Migrationsgemeinschaften unterstützen auch sozial, etwa indem sie ihren Mitgliedern ein Heimatgefühl in der Fremde vermitteln.

Muslime leisten viel Integrationsarbeit.

Was für Schlüsse ziehen Sie für die Kirchen?

Bürgstein: Unsere Kirchen werden zu Migrationskirchen, in denen unterschiedlich gelebte Katholizismen zusammenkommen. Das ist in unseren Pastoralkonzepten und kirchlichen Strukturen aber noch nicht hinreichend berücksichtigt. Die Pfarreien sollten die eritreische oder philippinische Mission in ihren Räumen nicht nur als Gäste ansehen, sondern als Akteure mit einbeziehen. Da wollen die Bischöfe nun neue Wege gehen. Wir sind aber erst am Anfang. Wir müssen uns in dieser neuen Realität neu finden.

Wolfgang Bürgstein, Generalsekretär «Justitia et Pax» | © zVg
12. September 2017 | 17:59
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