Kommentar
Tour de Suisse in Einsiedeln: Welten prallen aufeinander
Beim Kloster Einsiedeln gibt es ein Gipfeltreffen der Gegensätze. Während am Sonntagabend auf dem Klosterplatz der Sieger der ersten Etappe der «Tour de Suisse» gefeiert wird, hält Bruder Gerold im Kloster eine «Tour de Littérature». Was das mit dem mittelalterlichen Philosophen Nikolaus von Kues zu tun hat, sagt Charles Martig in seinem Kommentar.
Charles Martig
Ganz Einsiedeln ist auf den Beinen. Viele angereiste Sportbegeisterte stehen am Strassenrand. Im Zeitfahren der «Tour de Suisse» gibt es ein spannendes Duell. Stefan Küng rast um die Ecke und dem Klosterplatz entlang, hoch in die Zieleinfahrt. Er gewinnt das Zeitfahren gegen den belgischen Weltmeister mit sechs Sekunden Vorsprung. Der Speaker feiert den Schweizer Sieg euphorisch.
Ich bin kein Fan von Radrennen, aber fasziniert von der Kulisse und der Publikumsbegeisterung. Immerhin ist es die erste Etappe der Schweizer Rundfahrt. Und zum ersten Mal geht sie durch Einsiedeln. Die Zieleinfahrt vor der Klosterkulisse hat etwas Magisches.
Während kurz nach 17 Uhr auf dem Klosterplatz das gelbe Trikot an Stefan Küng übergeben wird und die Champagnerkorken knallen, wird es im Kloster besinnlich. Bruder Gerold Zenoni hat zu einer Premiere geladen. Es handelt sich um eine literarische Führung unter dem Titel «Von Paracelsus bis Hürlimann».
Gekommen sind mehr als 100 literatur-hungrige Seelen. Im grossen Saal des Klosters begrüsst Urban Federer das Publikum und erklärt, dass Literatur Welten eröffnen könne. Gerold Zenoni übernimmt die Einführung in das neue Angebot des Klosters Einsiedeln. Mit Bildern, Film- und Textausschnitten führt er in die Premiere ein. Er wird unterstützt von professionellen Stimmen: Anatole Taubman, Sylvia Silva und Felice Zenoni.
Welten prallen aufeinander. Hier der schnelle und laute Radsport, dort die stille und besinnliche Lesung. Hier die mediale Aufmerksamkeit, dort der begrenzte Zirkel der Literatur. Hier die grosse Event-Maschine mit euphorischer Speaker-Stimme, dort der sympathische Bruder Gerold mit verschmitzten Lächeln.
Nikolaus von Kues (1401-1464) hat in seiner Lehre von der Gotteserkenntnis den Begriff «Coincidentia oppositorum» geprägt. Es handelt sich um den «Zusammenfall des Gegensätzlichen». Nach Kues’ Auffassung gibt es keinen Widerspruch in Gott. Er ist die Einheit von allem, also auch von allen Widersprüchen.
So kann auch eine Radrundfahrt in Einsiedeln zu einem Ort der Gotteserkenntnis werden. Wenn die Tour de Suisse zum Wallfahrtsort kommt, dann geht das Kloster auch zum Grossevent. Abt Urban Federer gab die Erlaubnis für die Nutzung des Klosterplatzes. Vor dem Rennen wurden die Fahrräder mit Weihwasser gesegnet. Auf jeden Fall habe ich bei all dem spontan an Kues und seine geniale Gotteserkenntnis denken müssen.
Die literarische Führung «Von Paracelsus bis Hürlimann» ist Teil des kulturellen Angebots im Kloster Einsiedeln. Ab 16. August 2023 wird sie regelmässig angeboten. Buchungen für die Führung nimmt das Kloster ab sofort entgegen: wallfahrt@kloster-einsiedeln.ch.
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