Taubblind – wie hat sich’s mit der Religion?

Das Zentrum Tanne sucht nach Wegen zur Kommunikation mit Taubblinden

Langnau am Albis ZH, 22.7.10 (Kipa) Den konkreten Tod abstrakt erfahrbar machen? Bei Menschen, die taubblind geboren sind, ist das kaum zu verwirklichen. In ihrer Welt verlieren Symbole wie etwa das Kreuz ihre Bedeutung, werden aber mit neuem Inhalt gefüllt. Für die Taubblinden sind Gegenstände eines der wichtigsten Kommunikationsobjekte. Wie kann Religion gegenständlich werden?

Georges Scherrer

8.000 Menschen in der Schweiz sind mehr oder weniger von Taubblindheit betroffen, vor allem ältere Leute. Als einziges Deutschschweizer Zentrum ist die «Tanne» in Langnau am Albis dafür ausgerichtet, solche Menschen gezielt zu betreuen und zugleich die Kommunikationsmöglichkeiten zu erforschen.

Der erste Kontakt: Ein Mädchen steuert mit dem Blindenstock im Garten auf einen Haag zu. Ein Betreuer weist ihr den Weg zum Gartentor und öffnet es. Das Mädchen hört und sieht nichts. Es würde das Gatter nie finden. Und wie soll man ihm, das nicht sieht und nicht hört, erklären, wie ein Gartentor funktioniert? Die «Pensionäre» müssen ständig bewacht werden. Die Balkone im Kindertrakt sind mit Netzen abgesichert.

Der sechs-jährige Jannis merkt sogleich, dass jemand das Zimmer betreten hat. Er sucht nach Kontakt, vertieft sich aber sehr schnell unter der Kontrolle seines Betreuers wieder in sein wildes Spiel mit Kügelchen.

Jannis ist nicht vollkommen blind und taub. Er hört gerade noch etwas. Ständig gibt er Laute von sich, und als der Betreuer ihn auf die Schaukel legt und krault, beginnt der Knabe ein Lied zu summen. Die Melodie ist erkennbar: Schlaf Kindlein schlaf. Werner Furrer, der sich neben dem Knaben als Ergo-Therapeut um zehn weitere Kinder kümmert, weiss aber, dass Jannis nie wird reden können. Seine Behinderung ist zu gross. Die Blindenschrift ist ihm verschlossen und auch die Zeichensprache der Taubstummen.

Werner Furrer drückt sich technisch aus: Von Jannis erhält er sehr wenig «Feedback». Wenn der Betreuer aber das Gefühl hat, es geht dem Kleinen gut, dann ist auch er zufrieden.

Eigener Wille

Bei Andreas Wachter sind zwei ältere Kinder in der Schule. Sie sitzen nicht dem Lehrer gegenüber, so wie es die Erstklässler in der öffentlichen Schule tun, sondern vielmehr einander gegenüber. Ein gemeinsames Lernen ist nicht möglich, Beide Sprösslinge brauchen eine individuelle Annäherung. Der Junge ist im Spiel mit zwei Bauklötzen vertieft. Das Mädchen hört nichts, hat aber noch eine relativ gute Sicht. Aber, wie es sachlich in der Broschüre der Tanne heisst: «Zusätzlich kann die Wahrnehmung erschwert sein durch weitere, beispielsweise kognitive oder körperliche Beeinträchtigungen.»

Bei den meisten in der Tanne betreuten Menschen kommt zur vollständigen oder teilweisen Blindheit und Taubheit eine andere Behinderung hinzu. So haben sie zum Teil eine Störung in ihrem Bewegungsauflauf. Die Wahrnehmung der Umwelt ist massiv eingeschränkt. Es braucht sehr viel Zeit, bis sie die wenigen Impulse wahrnehmen können, welche ihnen Lehrer und Betreuer beibringen.

Das Mädchen, das gerade bei Lehrer Wachter in der Schule ist, kann mit seinen 18 Jahren über Bilder, die es zur Auswahl hat, klar machen, dass es Wasser oder Ovomaltine möchte. Es zeigt auf das entsprechende Bild in seinem «Lexikon». Dieses enthält zahlreiche Bilder, die auf Lebenssituationen des Mädchens zugeschnitten sind.

An dem Kind wird aber auch deutlich, wie schwer Kommunikation ist. Es «spricht» zwar mit erlernten Gebärden, fügt aber auch eigene hinzu. Lehrer Wachter ist immer wieder mit neuen Gesten konfrontiert. Er hat gemerkt, dass eine der neuen Gebärden, und zwar wenn das Mädchen auf ein Ohr weist, bedeutet: Hör mir zu.

Die Frau mit der Perlenkette

120 Personen pflegen und betreuen die 60 Pensionäre, 20 Kinder und 40 Erwachsene. Der älteste Pensionär ist 70 Jahre alt. Damit die Schützlinge die Pfleger und Zimmer auseinander halten können, sind diese jeweils mit speziellen Gegenständen gekennzeichnet. Die Zentrumsleiterin, Erika Steiger Forrer, trägt eine Halskette aus Glasperlen. Bei der Küche hängt ein Schwingbesen an der Tür, beim Musikzimmer ein Trommelstock. Werner Furrers Arbeitzimmer ist mit einem flauschigen Staubwedel gekennzeichnet. Jannis kann auf diese Weise erkennen, dass er zu Werner Furrer gebracht wird, und Werner Furrer erkennt er am Band mit Klettverschluss, das dieser am Arm trägt.

Indem sie den Wänden entlang gehen, können sich die betreuten Personen anhand der Gegenstände an den Türen orientieren und so selbstständig im Haus bewegen, sagt die Trägerin der Halskette aus Glasperlen. Auch die Temperatur ist ein Orientierungspunkt. Im Gang, der zum Wellnesszentrum und zum Musikzimmer führt, ist es kalt. Mit Absicht, sagt die Frau mit der Halskette aus Glasperlen. Die Taubblinden sollen spüren, dass sie sich hier in einem Durchgang befinden und nicht in einem Aufenthaltszimmer.

Religion als abstraktes Gebilde

Gefragt, ob die taubblinden Patienten Feste wie Weihnachten verstehen können, antwortet Erika Steiger Forrer, das sei gar nicht einfach. Gegenstände verlieren ihren Symbolgehalt und werden dafür mit neuen Inhalten gefüllt. Religion wird sehr niederschwellig behandelt. In der Tanne gilt es als ausgeschlossen, dass man einem blinden und tauben Menschen die theologische Bedeutung des Kreuzes als Symbol der Erlösung nahebringen kann. Es brauche «Jahre, bis ein Mensch mit einer derartigen Behinderung zum Ausdruck bringen kann, dass er ’Wasser’ trinken möchte», so Erika Steiger Forrer.

In der Tanne wird greifbar, dass Religion etwas völlig Abstraktes ist. Dennoch setzt das Zentrum religiöse Momente, etwa mit einer Adventsfeier. Zu dieser werden die Eltern eingeladen. Es wird Weihnachtsgebäck aufgetischt. Kerzen brennen auf dem Tisch. Weihnachtslieder bringen nichts, denn die Patienten hören diese nicht. Gemeinschaftsgefühl sowie der Geruch von Gebäck und Kerzen können den Patienten den Eindruck von festlicher Stimmung vermitteln, sagt die Zentrumsleiterin. Die behinderten Kinder und Erwachsenen merken anhand der Atmosphäre, dass etwas Besonderes im Gang ist.

Tod als Trennung erfahren

Die Frau mit der Vogelfeder heisst Elisabeth Beck. Seit 20 Jahren arbeitet sie in der Tanne und geht nun bald in Pension. Was geht in den Köpfen der von ihr betreuten Personen vor, wenn jemand stirbt? «Ich weiss es wirklich nicht», sagt sie. Elisabeth Beck hat drei Todesfälle in der Tanne erlebt. Was der Tod ihnen bedeutet, können die Pfleglinge nicht sagen. Die Pfleger haben jeweils einen Tisch und Kerzen aufgestellt. «Alle sind gekommen und haben etwas von sich, ein Symbol oder ein Geschenk, auf den Tisch gestellt», erklärt Elisabeth Beck.

In einem Fall besuchten die Pfleger mit den von ihnen betreuten Menschen den Friedhof. Auch dort wurden Gegenstände abgelegt und zurückgelassen, um zu verdeutlichen, «dass dies ein Abschied ist». Tod bedeutet Trennung. «Man kann zudem die Arme zum Himmel strecken, um zu zeigen, dass da oben auch etwas ist, Ich weiss aber nicht, ob meine Klienten das verstanden haben».

«Dass es gut tut»

Religion kann man nicht fühlen, sagt Elisabeth Beck. Sie hat ihren Katechismus in der Schule gelernt. Sie hat gelernt, was die verschiedenen liturgischen Gebärden bedeuten. Die Frau mit der Vogelfeder kann aber nicht sagen, wie ihre «Klienten» Religion wahrnehmen, erinnert sich aber an ein Kind, dessen Eltern «sehr katholisch waren». Diese besuchten mit ihrem Kind regelmässig den Gottesdienst.

Elisabeth Beck hat diese Tradition beibehalten und ging selber mit dem Kind in die Kirche. «Es hat über den Geruch sofort gemerkt, wo es ist. Wir haben uns auf eine Bank gesetzt, und ich habe gemerkt: Dem Kind tut das gut. Was es dabei empfunden hat, kann ich nicht sagen, aber es ging ihm sehr gut. Es ist doch das Wichtigste auch an der Religion, dass es einem gut geht.»

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(kipa/gs/bal)

22. Juli 2010 | 10:59
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