Tamar Krieger, schweizerisch-israelische Doppelbürgerin.
Schweiz

Tamar Krieger: «Man kann doch einfach menschlich sein und mitfühlen mit Israelis und Palästinensern»

Izeta Saric (43) und Tamar Krieger (34) sind Freundinnen. Kennengelernt haben sich die Muslimin und die Jüdin im interreligiösen Dialog. Im Interview sprechen sie über ihre Freundschaft, den Krieg im Nahen Osten – und wie man mit Hassgefühlen umgehen soll.

Barbara Ludwig

Tamar Krieger (34) stösst den Kinderwagen in den grossen Raum. Viele rote Stühle stehen hier um weiss lackierte Tische. Wir sind im Restaurant der bosnischen Moschee – mitten im Industriequartier der Luzerner Agglo-Gemeinde Emmenbrücke.

Izeta Saric (43) ist schon da. Die beiden Frauen begrüssen sich mit einer herzlichen Umarmung. «Möchtest du einen Kaffee oder lieber einen Tee?», fragt die Muslimin Izeta Saric, die sich hier bestens auskennt. Und sogleich entspinnt sich zwischen den beiden ein Gespräch übers Stillen und die Tees, die frau in der Stillzeit nicht trinken sollte. Und natürlich will Izeta Saric, selber Mutter von vier Töchtern, das Baby ihrer jüdischen Freundin sehen.

Izeta Saric (links) und Tamar Krieger (rechts).
Izeta Saric (links) und Tamar Krieger (rechts).

Als Tee, Kaffee und Gipfeli bereit sind, kann es losgehen mit dem Gespräch über ihre Freundschaft, das nicht zufällig an diesem Ort stattfindet. Denn Tamar Krieger und Izeta Saric sind im interreligiösen Dialog engagiert und treffen sich hier auch bei Moscheeführungen für Schülerinnen und Schüler.

Frau Krieger, wie haben Sie am 7. Oktober den Angriff der Hamas auf Israel erlebt – als Schweizer Jüdin?

Tamar Krieger*: … mit einem israelischen Pass. Ich muss gestehen: Ich selber habe es gar nicht so direkt mitgekriegt. Meine Mutter ist Israelin. Sie hat  uns in ziemlicher Panik geschrieben, es sei etwas passiert. Ich habe dann im Internet nach Informationen gesucht. Aber an diesem Samstag hatte ich noch den Eindruck, es handle sich um die üblichen Auseinandersetzungen. Nie hätte ich gedacht, dass sich der Konflikt so ausweitet. Erst am nächsten Tag habe ich von dem Festival gehört, bei dem Hunderte von Menschen umgebracht wurden. Und realisierte, dass da mehr passiert war.

«Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist kein jüdisch-muslimischer Konflikt.»

Tamar Krieger

Haben Sie danach Solidarität erlebt von andersgläubigen Menschen?

Krieger: Von ein paar Kolleginnen habe ich Nachrichten erhalten. Sie fragten nach, wie es meinen Familienangehörigen geht. Und als ich im November wieder aktiv bei der «Woche der Religionen» mitmachte, habe ich Solidarität erlebt: An der Friedensfeier gab es Freundschaftsbänder, die man weitergeben konnte. Eine unbekannte Frau trat auf mich zu, reichte mir ein Freundschaftsband und bat mich, es jemandem in Israel zu geben.

Israelische Sperrmauer.
Israelische Sperrmauer.

Sprechen Sie miteinander über den Nahost-Konflikt?

Krieger: Nein. Wir haben uns seit dem 7. Oktober gar nicht mehr gesehen.

Izeta Saric*: Du bist Schweizerin. Der Nahost-Konflikt war zudem bislang nie ein Thema in unserer Beziehung. Ich hatte deshalb nicht das Gefühl, dass ich mich bei dir hätte melden müssen.

Krieger: Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist in seinen Ursprüngen kein jüdisch-muslimischer Konflikt. Darum habe ich auch nicht das Gefühl, dass ich mit Izeta darüber sprechen muss. Wenn du jetzt Verwandte in Israel, Palästina oder im Libanon hättest, wäre das vielleicht anders. Aber deine Familie ist in Bosnien zuhause.

Für Frau Krieger ist es kein jüdisch-muslimischer Konflikt. Sehen Sie das auch so, Frau Saric?

Saric: Ja. Bis 1948 haben Juden und Muslime im Nahen Osten friedlich miteinander gelebt. Aussagen der damaligen jüdischen und muslimischen Bevölkerung legen davon Zeugnis ab. Heute ist dies leider nicht mehr der Fall.

«Die Leute meinen, sie müssten für eine Seite Partei ergreifen. Das ist ein Problem.»

Tamar Krieger

Krieger: In diesem Konflikt geht immer wieder vergessen, dass es auch Christen unter den Palästinensern gibt. Das Problem ist – ich beobachte das vor allem in den Nachrichten und den Sozialen Medien –, dass die Leute meinen, sie müssten für eine Seite Partei ergreifen. Das muss man nicht. Wieso muss ich für Israel oder Palästina sein? Man kann doch einfach menschlich sein und mitfühlen mit Israelis und Palästinensern. Unter dem Konflikt leiden doch Kinder, Eltern, alte Menschen beider Seiten.

Treffpunkt bosnische Moschee in Emmenbrücke LU.
Treffpunkt bosnische Moschee in Emmenbrücke LU.

Wie haben Sie beide sich eigentlich kennengelernt?

Saric: Das ist bestimmt zehn Jahre her. Es könnte bei einer interreligiösen Friedensfeier in der Luzerner Hofkirche gewesen sein. Seither sind wir in Kontakt zueinander. Unterdessen hast du, Tamar, auch einen Platz in meinem Herzen bekommen.

Krieger: Die zehn Jahre könnten stimmen. Denn so lange bin ich bereits im interreligiösen Dialog tätig.

«Wir erklären die Religion, in der wir leben.»

Izeta Saric

Bei der Begrüssung haben Sie sich umarmt. Was macht Ihre Freundschaft aus?

Saric: Bei Tamar habe ich gespürt, dass sie offen ist und den Dialog sucht – und mich auch so akzeptiert, wie ich bin. Das ist gegenseitig. Wir sprechen auch über private und persönliche Dinge. Täglich miteinander telefonieren, das machen wir nicht. Ich glaube, unsere Rollen im interreligiösen Dialog verbinden uns: Wir erklären die Religion, in der wir leben. Und wir erklären, wie wir unser Leben als mehr oder weniger gläubiger Mensch in der Schweiz gestalten. Für mich ist es eine ganz spezielle Freundschaft.

Izeta Saric und Tamar Krieger, Freundinnen im Gespräch.
Izeta Saric und Tamar Krieger, Freundinnen im Gespräch.

Krieger: Wir treffen uns nicht oft, vielleicht zwei Mal im Jahr. Doch immer ist es eine warme und herzliche Begegnung. Das macht für mich diese Freundschaft aus. Ausserdem dreht sich nicht alles um Religion: Ich sehe dich nicht einfach als Muslima, sondern du bist Izeta. Wir tauschen uns auch über Alltägliches aus.

In den Nachrichten über den Nahostkonflikt sieht man Menschen, die unter dem Krieg leiden und voller Hass sind. Wie soll man mit Hassgefühlen umgehen?

Saric: Im Bosnienkrieg, den ich erlebt habe, wollte die serbische Armeeführung die Muslime vertreiben. Der Genozid von Srebrenica ist allen ein Begriff. Für mich ist es sehr schwierig, jemandem gegenüber zu stehen, der die Vertreibung der Muslime womöglich bejaht.

«Hass macht deine Seele kaputt.»

Izeta Saric

Doch ich sage mir immer wieder: Nicht alle Serbinnen und Serben sind wie Karadzic und Mladic, die die Vertreibung organisiert haben. Ich versuche, niemanden zu hassen. Auch meinen Kindern sage ich: Du darfst jemanden nicht gern haben, aber hassen sollst du ihn nicht. Hass ist etwas, das deiner Seele schadet und sie kaputt macht.

Izeta Saric macht auch Führungen durch die bosnische Moschee in Emmenbrücke.
Izeta Saric macht auch Führungen durch die bosnische Moschee in Emmenbrücke.

Krieger: Ich verstehe die Wut, die nach dem jahrzehntelangen Konflikt auf beiden Seiten entstand. Ich bin auch kein Fan der israelischen Regierung, deren Siedlungspolitik finde ich sehr problematisch. Gleichzeitig verurteile ich die Haltung und die Taten der Hamas.

«Wie kann man die Dämonisierung des andern verhindern?»

Tamar Krieger

Wie kann man die Dämonisierung des Gegners verhindern? Hier hätten Bildungsinstitutionen eine grosse Verantwortung. Kürzlich habe ich ein Schulbuch entdeckt, das den Israel-Palästina-Konflikt aus beiden Perspektiven erzählt. 1948 zum Beispiel: 1948 wurde der israelische Staat gegründet. Auf palästinensischer Seite steht 1948 für die sogenannte Nakba (Katastrophe, d. Red.), also die Flucht und Vertreibung von rund 700’000 Palästinenserinnen und Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina. Es geht darum, das Narrativ des andern kennenzulernen. Dies wäre ein Ansatz, um Verständnis für die andere Seite zu entwickeln und zu entdecken: Was haben die anderen durchgemacht? Wie sehen sie die Geschichte?

*Izeta Saric (43) stammt aus Bosnien. Sie ist teilweise in der Schweiz aufgewachsen und wohnt heute mit ihrer Familie in Horw LU. Die Muslimin engagiert sich seit 2008 im interreligiösen Dialog. Unter anderem organisiert sie Führungen in der bosnischen Moschee in Emmenbrücke LU. Saric unterrichtet das Fach «Ethik, Religion und Gemeinschaft» im Auftrag der Katholischen Kirche Stadt Luzern.

*Tamar Krieger (34) ist schweizerisch-israelische Doppelbürgerin. Ihre Mutter ist Jüdin, ihr Vater Christ. Sie arbeitet als Lehrerin für Religionskunde und Ethik an der Kantonsschule Alpenquai in Luzern. Krieger lebt in einer Partnerschaft und hat eine Tochter. Die Jüdin engagiert sich seit 2013 im Interreligiösen Frauendialog in Luzern.


Tamar Krieger, schweizerisch-israelische Doppelbürgerin. | © Barbara Ludwig
17. Dezember 2023 | 12:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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